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Systeme der Kunst, Systeme des Sensitiven (24/02/2005)

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Régimes des arts, régimes du sensible (paris-art.com)

Gewisse Künstler und Akteure der Kunst ernennen sich selbst zu den Vertretern des - so wie sie es nennen - „Sensitiven“. Sie stehen voll hinter dieser Aufgabe, überzeugt davon, dass man an einem Punkt angelangt ist, an dem das „Sensitive“ dermaßen abgewertet ist, dass es dringend eine Rehabilitierung nötig hätte.
In der Mission, die sich diese Künstler ihrer Kunst auferlegt haben, und die diese Kritiker in ihren Schriften weitergeben, geht es darum, das verlorene Paradies des „Sensitiven“ wiederzufinden, das durch mehr als ein Jahrhundert moderner Kunst runtergewirtschaftet und dem durch die letzten Entwicklungen der heutigen Nicht-Kunst der Rest gegeben worden ist. (Siehe Editorial des 17. Februar 2005)
Dies ist der Sinn des Manifests „Eine Kunst für den Menschen“, das uns sicher nicht durch die Überzeugungskraft seiner Analysen auffällt, sondern durch seine symptomatische Denkweise, nahe dem Nullpunkt, über Kunst und Kultur.

Man hat in der Tat allen Grund dazu, sich durch die verschiedenen Entwicklungen der Kunst, die seit (mindestens) einem Jahrhundert stattgefunden haben, gestört zu fühlen, wenn man an einer versteinerten Auffassung, die besagt, dass das „Sensitive“ an wohldefinierte Praktiken gebunden ist, festhält. Dies trifft nicht auf die Kunst zu, auch nicht auf die Malerei, sondern auf eine bestimmte Art der Malerei. In diesem Blickwinkel sei das „Sensitive“ das Monopol dieser bis ins Extrem tastbaren Malerei, der man nachsagt, dass sie in ihrer Substanz und ihren Schichten den Abdruck der Geste und des Pinselstrichs des Künstlers beinhaltet; diese Malerei, die ihre Themen in eine Hierarchie stellt und ihre Methoden kodifiziert; diese Malerei, die die Gebiete, die Materialien und die Themen der Kunst von der der Nichtkunst sorgfältig trennt.
Anstelle des verheiligten „Sensitiven“, das man in seiner Fixiertheit „rehabilitieren“ will, sollte man besser von den „Systemen des Sensitiven“ reden, um deutlich zu machen, dass das Sensitive in Entwicklungen mitgerissen wird, dass es nicht in einem Heiligtum der Vergangenheit eingeschlossen ist, sondern ganz konkret in die Gegenwart eingebettet ist.

Man versteht, dass die Apostel des ewig Sensitiven in Marcel Duchamp den personifizierten Teufel sehen, der, so glauben sie, in seiner Offensive gegen die Kunst, welche auf die Netzhaut trifft, sämtliche Irrwege der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts ermöglicht hat, bis zum Gebrauch der „Exkremente des Künstlers", wie ein Korrespondent von paris-art.com so schön beklagte, sicherlich in Bezug auf die berühmte Merda d'artista (1961) von Piero Manzoni.

Tatsächlich bettet sich das Manifest, ohne es zu wollen, in einen tief liegenden Prozess ein, der seit eineinhalb Jahrhunderten unaufhörlich die Diskussionen über die Kunst in Gang hält, aber keinesfalls mit diesem so genannten Bruch übereinstimmt, der dafür verantwortlich gemacht wird, die Schaffenden zu den Institutionen und dem internationalen Markt in Opposition zu stellen (selbst wenn es in dieser Hinsicht einiges zu sagen gäbe).
Dieser Prozess, der die Kunst in ihren Fundamenten, Ausführungen, Gewohnheiten und Formen erschüttert hat, bewirkte einen Zusammenbruch der darstellenden Kunstsysteme zugunsten eines neuen ästhetischen Kunstsystems. (Jacques Rancière)

Der Untergang des darstellenden Systems (der Mimesis) bedeutet keinesfalls den Verfall oder das Ende der Figuration, sondern nur die Auflösung von Prinzipien, die die Art und Weise der Darstellung mit dem Dargestellten in Einklang brachten.
Große Gattungen für edle Themen (historische Malerei, Hofportraits etc.), mindere Gattungen für populäre Themen: Diese Entsprechung, die innerhalb der schönen Künste (Plural) streng kodifiziert war, verschwand mit dem Erscheinen der Kunst (Singular) und des ästhetischen Systems. Dieser Übergang der schönen Künste zur Kunst, eines darstellenden künstlerischen Systems zu einem anderen (ästhetischen) vollzieht sich im globalen Rahmen des Zusammenbruchs der alten sozialen, kulturellen und politischen Hierarchien und in der Ausbreitung des Wirtschaftsmarktes. Dieser Übergang findet sich in einer neuen Äquivalenz zwischen all den Themen und dem Ausschalten der Grenzen zwischen dem künstlerischen Tun und anderen Arten von Tun, zwischen der Kunst und der Nichtkunst wieder.

Mit dem Aufkommen der Kunst und der Ästhetik verlieren die großen Themen die Gunst, die sie in der Zeit der schönen Künste besaßen, während beliebige Themen zu künstlerischen Gattungen aufsteigen, die ihnen bisher versagt waren. Es ist die Epoche, in der Gustave Flaubert sich auf das ästhetische Programm „das Mittelmäßige gut schreiben" festlegt, kurz nachdem der Journalist Jules Janin 1839 zutiefst berührt war, als er entdeckte, dass die Fotografie die „Kathedrale die sich in den Wolken verliert" auf die gleiche Weise reproduziert wie das „unscheinbare Sandkorn", und dies ohne Diskriminierung.

So ist das ästhetische System: Die Kathedrale kommt dem Sandkorn gleich, das Heilige, das Profane und das Mittelmäßige haben bezüglich der Figuration die gleichen Rechte. Das Ende der Hierarchien zwischen den Themen führt zur Erhebung des Beliebigen; das Ende der Hierarchien zwischen den künstlerischen und den gewöhnlichen Praktiken macht die Kunst offen für alle Praktiken und alle Materialien des Lebens. Die Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst, zwischen Kunst und Leben schwinden.

In unserem ästhetischen System gibt es keine Verbote mehr, die Regeln des darstellenden Systems haben ihren vorschriftsmäßigen Charakter verloren. Alle Praktiken (Fotografie, Video, Internet etc.), alle Materialien (von der Malerei bis zur „Merda“ von Manzoni), alle Arten von Werken (vom Gemälde zur Installation, zum Konzept von Joseph Kosuth oder zu den Treffen initiiert von Rikrit Tiravania), alle Themen (von den großen politischen Fragestellungen zu den kleinen intimen Problemen) können ausnahmslos zu Kunstthemen gewählt werden.

Nach der Meinung derjenigen, die diese Entwicklung heftig attackierten, sei die Kunst das Reich des „Irgendwas“ geworden. Zum Teil stimmt das auch: Vielleicht „irgendwas“, aber, und darauf kommt es an, nicht „irgendwie“!
Der Künstler stößt auf keine Verbote mehr in den Mitteln, die er gebraucht, in den Bereichen in denen er sich bewegt, und in seinen Fragestellungen: Die gesamte Welt der Dinge und Tatsachen stehen ihm in seiner Kunst zur Verfügung. Angesichts dieser Unendlichkeit der Möglichkeiten kann der Künstler von heute nicht mehr auf das System der Darstellung zurückgreifen, an dem sich der Künstler von gestern noch orientierte.
Aber sowohl der Eine wie auch der Andere stehen vor einer ähnlichen Herausforderung: das Gestalten von Werken und das Erfinden von Formen, die mit dem, was die Welt bewegt, mit der Situation der Kunst und dem Zustand des Sensitiven von heute in Resonanz steht.

Autor: André Rouillé

Übersetzung: Stephan Meinhardt