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Rainer Rochlitz: Kritik ade

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Kritik ade

Vorwort von Rainer Rochlitz

Mehr noch als die Literatur- oder die Filmkritik ist die Kunstkritik als Genre in Gefahr. Die Literatur- und die Filmkritik geben im Allgemeinen noch den Standpunkt eines breiten Publikums wieder, den des Lesers und des Zuschauers, der Literaturliebhaber und der Cinephilen. Auch dort gibt es in der allgemeinen Presse und der Fachpresse Anzeichen von institutioneller Unterstützung, die nicht auf den reellen Qualitäten basieren, aber bezeichnenderweise fallen solche Beispiele noch auf und rufen Missbilligung hervor. Die Kritik in diesen Bereichen beschränkt sich heute mehr auf den Ausdruck von Vorlieben, Abscheu und manchmal Unverständnis. Eine Kritik, die in der Lage wäre, ein Buch oder einen Film in einem Blickwinkel zu beleuchten, sich an Parallelen und Modelle abseits vom heutigen Geschmack zu erinnern, ist nicht die Regel. Nichtsdestoweniger ist diese Art von Bericht ein implizites Modell einer solchen literarischen Aufgabe.

Aus vielerlei Gründen kommt die Kunstkritik kaum noch in den Genuss eines solchen Modells. [Die kritischen Schriften von Arthur Danto, ein Autor, der selbst zu einer Institution geworden ist, bilden eine der seltenen Ausnahmen. Siehe « Après la fin de l'art, trad. Cl. Hary-Schaeffer, Paris : Seuil, 1996 »]. Wenn es auch nicht darum geht die klassischen Werke neu zu bewerten, die Werbung ist dort fast zur Regel geworden, und das Publikum, das sich auskennt, reduziert sich mehr und mehr auf die Akteure der Kunst. In diesem Bereich äußert sich der Kritiker im Namen eines impliziten Konsens, und weder im Namen der Öffentlichkeit, noch um diese aufzuklären. Der Kritiker soll den Gesichtspunkt des Künstlers annehmen und nicht den eines überraschten oder enttäuschten, eines angetanen oder eines empörten Besuchers. Auf Grund wirtschaftlicher und institutioneller Zwänge, die diesem Milieu zu Eigen sind, ist es quasi nicht mehr möglich, in gutem Glauben etwas Schlechtes über einen Künstler zu sagen oder sich in zurückhaltender Weise über sein Werk zu äußern. Also kann man streng genommen auch nichts Gutes mehr über ihn sagen. So ist alles, was ausgestellt wird, von gleichem Interesse und verdient gleichermaßen gezeigt zu werden. Bis in die seriösen Verlage hinein kennen die Reihen von Künstlermonogafien kaum noch eine kritische Distanz. Die Artikel in den Zeitschriften erweisen dem Ruf des Künstlers einen Dienst, wenn es nicht gerade Interviews sind, in denen die Künstler selbst ihre Arbeit erklären. Wenn ein Künstler Gegenstand einer Kritik ist, dann findet sie meist in Form eines globalen Angriffs auf die zeitgenössische Kunst statt und hat nur eine geringe Bedeutung unter dem Gesichtspunkt der eigentlichen Kritik, die sachkundig und, soweit möglich, frei von Vorurteilen sein sollte.

Wenn man die Institutionen in der Kunst betrachtet, seien sie öffentlich oder privat, so tendieren sie alle dazu sich auf sich selbst zurückzuziehen. Ihre Akteure: Künstler, Leiter von Institutionen, Sammler, Kritiker, sie bilden das wichtigste Publikum, das zusammenhält, im Voraus von der Sache überzeugt ist und nur privat seiner Verachtung und seiner Vorlieben Ausdruck verleiht. Es soll im Übrigen gar kein Urteil abgeben, sondern sich auf dem Laufenden halten. All diese Leute gehen zusammen von einer Ausstellung zur nächsten, wo sie ihre Heiligtümer wiederfinden, diese Schritte werden in einer unveränderlichen Logik von Überraschungen und kleinen Abweichungen folgend immer wieder getan. Sie folgen allen ein und demselben Prinzip: denen gegenüber, die Zurückhaltung zeigen und die nichts anderes als eine dauernde widerspenstige Haltung einnehmen, solidarisch zu sein. Gleichzeitig verfügt der widerspenstige Geist innerhalb der Welt der zeitgenössischen Kunst über seine eigenen Kreise, welche die figurative Malerei vorziehen, und die, erfüllt von einem antropologischen Pessimismus sich an der Kunst des 20sten Jahrhunderts orientieren: Bonnard, de Chinico, Balthus, Lucian Freud...

Parallel dazu sind die Rollen der Akteure in den geschlossenen Kreisen der zeitgenössischen Kunst austauschbar geworden. Jeder Kritiker, jeder Verantwortliche kann seinerseits zum Schöpfer werden, eine Ausstellung, ein Konzept oder eine Strömung entwerfen. Der Kunsthistoriker wird zum Kritiker, der Kritiker zum Ausstellungskommissar, der Ausstellungskommissar zu einer Art neuem Künstler. Auch in diesem Rahmen haben die Vorstellungen und Modelle nicht die nötige Distanz zur Kritik.

Dieser Bereich der Kunst ist quantitativ bedeutsam geworden. Die Anzahl der Künstler, zu denen regelmäßig die Absolventen der Kunstschulen hinzukommen, die der Kommissare, der Leiter von Instituten, Zentren und ihren Mitarbeitern, der Leiter von Veröffentlichungen, der professionellen und nichtprofessionellen Kritiker nimmt ständig zu. Alle haben ein Interesse daran, den Fortbestand ihrer Aktivitäten zu sichern. Das Spiel nicht mitzuspielen kommt einem Selbstmord gleich. Um dazuzugehören, die nötigen Einladungen zu erhalten und informiert zu werden, muss man solidarisch sein, selbst wenn der Großteil der Künstler und der Kritiker von ihrer Kunst bzw. ihren Schriften nicht leben können.

Bevor die Welt der Kunst eine solche autarke Form einnahm, genoss der moderne Künstler, der ohne Netz und doppelten Boden und oft in einer extremen finanziellen Unsicherheit arbeitete, ein ästhetisches, moralisches, sogar politisches Ansehen aufgrund seiner Außenseiterrolle, des Einsatzes, den die Kunst darstellte, die dazu befähigt war, das Bewusstsein zum Erwachen zu bringen, in seinem Publikum Unwohlsein hervorzurufen, ihm zu lehren, die Realität mit einer gewissen Distanz zu sehen und es für andere Welten zu öffnen. Selbst wenn es heute hoch qualitative Ausnahmen unter den Künstlern gibt, so ist die aktuelle Kunst im Gesamten doch zu weit entfernt und gleichzeitig zu behütet, um einen solchen Einfluss auszuüben.

Es gibt da noch einen anderen Grund, der die Krise der Kritik erklären kann. Die moderne Kunst diente als Stütze, um einen Wahrheitsgehalt, ein moralisches oder politisches Thema erkennen zu lassen, und es war die Aufgabe des Kritikers dies zu verdeutlichen, und in dieser Sache intervenierte er im öffentlichen Raum. Es ist kein Zufall, wenn, mit der Struktur einer abgeschlossenen Kunstwelt, eine andere Art von Analyse in Erscheinung tritt, die in den Universitäten mit der traditionellen und der modernen Ästhetik konkurriert: die der „analytischen" Ästhetik, der genau mit ihrer beschreibenden Art eine „kritische" Haltung fremd ist. Vor der Wahl zwischen einer Aktivität, die den Verkauf fördert, und dem Ausdruck von einfachen „Vorlieben" haben es die seriösen Beobachter, die nicht in den Kunstbereich eingebunden sind, vorgezogen, eine neutrale Haltung einzunehmen. Das bedeutet, dass man von vornherein annimmt, dass eine Kritik im traditionellen Sinn nicht mehr praktikabel ist.

In meinen Büchern Subversion et Subvention und L'Art au banc d'essai (Die Kunst auf dem Prüfstand) [Paris, Gallimard, 1994 e 1998] habe ich versucht zu zeigen, dass die Kritik immer noch möglich ist, vorausgesetzt dass man den Gesamtkontext, in dem sie ihren Platz hat, überdenkt. Die Akteure des Kunstmilieus sind sich der Tatsache noch bewusst, dass Bemühungen zu einer Kritik, die ihres Namens würdig ist und die den Werken gerecht wird, etwas anderes ist als die Werbepraktiken, die sich heute durchgesetzt haben. Die Erinnerung an die Kritik ist noch lebendig. Wenn sie im Bereich der zeitgenössischen Kunst auch nicht mehr ihren genau definierten Platz einnimmt, so ist sie noch nicht verschwunden, und man kann nicht ausschließen, dass sie wieder auflebt, da die kommerzielle und institutionelle Verwaltung es dem Publikum nicht ermöglicht, sich zurechtzufinden. Nun berufen sich die Institutionen der zeitgenössischen Kunst, und besonders die öffentlichen Institutionen, darauf, von öffentlichem Interesse zu sein, was ja ihre Existenzberechtigung und die Quelle ihrer Finanzierung ist. Diese Schuld erzeugt Pflichten, es ist also nicht auszuschließen, dass die Kritik in einer anderen Form wieder auflebt.

Sicher, die Kunstwerke haben einen hohen Grad von Eigenheit erreicht und drängen die Grenzen der Gattungen hinaus, was die Aufgabe, sie einzuordnen und zu bewerten schwieriger macht. Trotzdem hat man nicht das Recht zu sagen, dass sie unvergleichbar geworden sind und sie damit einer Beurteilung entgehen. Solange die Werke zur Kenntnis an die Öffentlichkeit getragen werden, damit man sie versteht und sie ihres angemessenen Wertes würdigt, ist ein kritischer Anspruch nicht obsolet. Kritik ade – der Titel dieser Zusammenstellung von Essays – ist gleichzeitig eine Bestandsaufnahme der Gegenwart und ein Versuch daran zu erinnern, was der Sinn dieser Übung ist, den die Künstler und alle, die zur Welt der Kunst gehören, brauchen, um nicht im Zynismus zu versinken.

Quelle: Rainer Rochlitz, Feu la critique, essais sur l'art et la littérature, pp. 7-10, Bruxelles, La lettre volée, 2002.

Diesen Text in französischer Sprache findet man bei paris-art.com

Ich danke dem Verlag La lettre volée - Brüssel für die freundliche Genehmigung zur Übersetzung und Veröffentlichung.

Stephan Meinhardt