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Kunst unter Kontrolle - paris-art.com/ENSBA - 4. Mai 2004

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Eine Podiumsdiskussion organisiert von André Rouillé (paris-art.com) in der staatlichen Hochschule für bildende Kunst, Paris (Ecole Nationale Supérieure des Beaux Arts - ENSBA)

Einleitung

Die Zensur ist keine Kontrolle, sondern eher eine Art des Scheiterns der Kontrolle. Sie ist seine brutale und archaische Version, aber sie wird auch heute noch praktiziert, wie man an zahlreichen Beschlagnahmungen von Werken, Schließung von Ausstellungen und Zwangsräumungen von Künstlerateliers feststellen kann.
Die lange Liste von Aktionen, die von einigen Adepten autoritärer Lösungen und aller möglichen Repressionen gegen die Kunst und die Künstler angewendet wird, darf nicht den Blick vom Wesentlichen wenden: die Kunst leidet weniger unter einer zeitlich begrenzten, radikalen und spektakulären Zensur als unter einer Kontrolle, die sich in einer kontinuierlichen, diffusen und unsichtbaren Art ausübt. Sie hat sich zwar im 19ten Jahrhundert aus einer jahrhundertealten Unterordnung, der Macht und von akademischen Zwängen befreit, um sich daraufhin in den diffusen aber nicht wenig effizienten Netzen einer Kontrolle wiederzufinden. Schon seit langem musste sich die Kunst an exakte Regeln halten, an starre Konventionen, an solide Traditionen, welche die Gültigkeit der Darstellungen garantierten. Heute ist in der Kunst alles erlaubt, es handelt sich aber um eine kontrollierte Freiheit. Dabei muss betont werden, dass die Kontrolle nicht in den Händen einiger machiavellistischer Entscheider liegt, denen man sie nur wegnehmen muss um die Situation umzukehren oder abzuschaffen. Es ist eine Kontrolle, die sich eher ausübt als dass sie besitzt wird. (Michel Foucault)
Öffentliche oder private Einrichtungen haben natürlich die Möglichkeit, diese oder jene Kunstprojekte oder Künstler zu begünstigen oder zu beeinträchtigen und im Kunstbereich zu agieren. Eine solche Aktion ist nur selten direkt und nur in Ausnahmefällen der Willensausdruck eines ‚Prinzen' der heutigen Zeit, der früher ein Mäzen war, für den es zweitrangig war, den direkten Interessen der herrschenden Klasse zu genügen. Nein, diese Aktion entspringt vielmehr einer Mischung aus Funktionsmöglichkeiten, Anlagen, Strategien, die immer einzigartig, veränderlich und widersprüchlich sind. Die vorherrschende Art und Weise der Kontrolle ist nicht einfach die der herrschenden Klasse.
Während die Zensur einen klaren Ursprung hat - der Zensor der eine bestimmte Macht inne hat - so geht die Kontrolle in einer bestimmten Art vor, die gleichzeitig nur in begrenztem Maße ihre Wirkung zu steuern vermag. Der Akt der Zensur ist direkt und brutal, vertikal und punktuell (der Zensor agiert von oben nach unten), während die Kontrolle sich horizontal verteilt, in dumpfer und dauerhafter Weise. Mit welchen Strategien soll man einer Kontrolle entgegentreten die nicht weh tut, die ihr Gesicht nicht zeigt, die keinen Verursacher und keinen Ursprung besitzt? Das entspringt übrigens der Unverantwortlichkeit der Leiter von (kulturellen und künstlerischen) Institutionen, ihrer Unfähigkeit deren Mechanismen zu steuern, dass man sich immer wieder anhören muss: "Wir haben kein Geld", in der Aufteilung ihrer Macht in eine Kaskade von Kommissionen und Experten, denen es nicht möglich ist, auch nur irgendeine Position zu vertreten.
Selbst wenn die Stellung, die Funktion, die Rolle und die Macht jedes Einzelnen nicht gleichwertig sind, die Verantwortlichen (Minister mit einbezogen) entkommen nicht ihrem Schicksal: sie sind selbst Räderwerk, Objekt und Auswirkung einer infernalen zu kontrollierenden Maschinerie, die sie nicht oder nur wenig kontrollieren. Aber was genau wird in der Kunst kontrolliert? Warum wird die zeitgenössische Kunst im Spielraum des sozialen Lebens aufrecht erhalten? Warum hält ihr der Staat immer ein so lächerlich geringes Budget bereit? Warum wenden sich die Massenmedien, insbesondere das Fernsehen, von ihr fast systematisch ab? Die Antworten sind natürlich vielschichtig und komplex, aber es könnte sein, dass dieser "Hass auf die zeitgenössische Kunst" in der Angst vor einer Andersartigkeit zu suchen ist, von der die Kunst ein Ausdruck ist.
Die Kunst, deren Werke sich einer geistigen Verarbeitung und einer Neutralisierung widersetzen, ist wie eine Unebenheit im sozialen zeitgenössischen Gefüge, welches von stromlinienförmigen und konsenserfüllten Idealen regiert wird, wobei die Kontrolle genau dieses Gefüge unterstützt. In einer Welt, in der Bilder, Gesten, Körper, Vorstellungen und Sehnsüchte mehr und mehr formatiert sind, in welcher der Unterschied immer mehr verweigert wird, dort sind die Werke der zeitgenössischen Kunst gefährlich, soweit sie eine andere Möglichkeit darstellen, soweit sie sich von den Bildern unterscheiden, die unsere Blicke übersättigen, von den Stereotypen die unsere Körper, unsere Gedanken und unsere Empfindungen modellieren. Die ‚Zeitgenössigkeit' der Kunst stimmt mit ihrer Fähigkeit überein, der gewöhnlichen und dominanten Ordnung der Bilder zu widerstehen, die Herrschaft des ewig Gleichen zu vereiteln, um so ein Werden zu skizzieren.
Nichtsdestoweniger ist die Kunst keine Gegenmacht, und wenn sie politisch ist, so bleibt sie doch völlig und gänzlich Kunst. Ihre soziale und politische Kraft liegt einzig in ihrem Widerstand gegen die Uniformisierung der Marktwirtschaft, in ihrem Prinzip der Verschiedenheit, in ihrer Kritik visueller, sexueller, relationeller oder korporeller Stereotypen, in ihrer Wahl von kreativer Vorstellungskraft als Lebensform. (Kunst ist das was das Leben interessanter macht als Kunst - Robert Filliou) Genau durch ihr grundsätzliches Anderssein, durch ihre Erfindungskraft, also ihren Störfaktor, durch eine Art Ungeselligkeit ist die Kunst zeitgenössisch und setzt sich einer Kontrolle aus. Solange bis ihre Provokationen verarbeitet sind, bis sich ihre Werke beruhigen, bis ihre Energie in ihrem Objektcharakter verschwindet.
Dann machen Kontrolle und Kunst der Kultur und der Spekulation Platz.
Autor: André Rouillé - Übersetzung: Stephan Meinhardt

Teilnehmer der Diskussion sind:

André Rouillé (AR): Direktor von paris-art.com, einer Website, die über die zeitgenössische Kunst im Pariser Raum informiert. Autor von "devenirs art contemporain dans l'Europe du Sud-Est " (Entwicklung zeitgenössischer Kunst in Südost-Europa)

Yabon (Y):
Aktionskünstler. Er besetzt Häuser mit anderen Künstlern und macht sie der Öffentlichkeit zugänglich.

Olivier Blankart (OB):
Künstler, Skulpturen, Installationen, Aktionen

Claude Lévêque (CL):
Einer der wichtigsten Künstler in der Szene der zeitgenössischen Kunst

Valérie de Saint-Do (VSD):
Journalistin der Revue "Cassandre", Mitglied der Redaktion von horschamps.org

Jean-Marc Adolphe (JMA):
Chefredakteur von "Mouvement"

Abkürzungen:

Kü I: Ein Künstler des Kollektivs "Impasse"

Kü: Ein Künstler aus dem Publikum

Pu: Ein Teilnehmer aus dem Publikum

SM: Stephan Meinhardt, Übersetzer, Netzkunst

Die Diskussion ist öffentlich. Im Publikum sind ungefähr 20 Leute anwesend.

Nach der Begrüßung stellt uns André Rouillé das Thema des Abends vor (siehe Einleitung).

Folgende Fragen werden als Anregung vorgeschlagen:

CL: Ich denke, dass sich eine Kontrolle hauptsächlich über das Geld abspielt. Geld ist das erste evidente System zur Kontrolle künstlerischer Tätigkeit. Das wichtigste für einen Künstler sind die Mittel, seine Arbeiten zeigen zu können.

AR: Ich möchte auf den Autor Rotschlitz (Subventionen/Subversionen) verweisen. Das Vergeben von Geldmitteln kann auch eine Art Kontrolle sein.

CL: Ok, aber gleichzeitig bestimmt man damit, wie, und welchen Bedingungen und in welchen Institutionen ausgestellt wird. Mich interessiert jetzt auch, wie die Meinungen aus dem Publikum zu dem Thema sind. Ich sehe, dass Leute aus der "Impasse" [Künstlerkollektiv in einem besetzten Haus in Paris - AdÜ] da sind. Ganz konkret wurdet ihr von der Polizei daran gehindert, eure Arbeiten zu zeigen. Meiner Meinung nach ist es interessanter, sich an konkrete Dinge zu halten als eine sehr allgemeine Debatte zu führen, die über Wochen dauert.

VSD: Ich möchte darauf zurückkommen, was André gesagt hat: bzgl. Zensur und Kontrolle. Meiner Meinung nach ist Geld eine unsichtbare Zensur. Die Kontrolle besteht darin, die Existenz von Kunst zu verhindern. Man stellt dies vielleicht eher in anderen Kunstformen fest, besonders in allem was reproduzierbar ist, wie im Film, Verlag oder Plattengeschäft. Man stellt fest, das die Macht ganz in den Händen der Distribution liegt. Wenn man bedenkt, dass in Frankreich die Presse und die Edition zu 80% in den Händen von Waffenhändlern liegen, dann ist das schon bedenklich. Für die Bühnenkunst und die zeitgenössische Kunst sieht es etwas anders aus. Trotz vieler Möglichkeiten und Institutionen wie die DRAC, FRAC und nationale Bühnen gelingt es vielen Künstlern nicht, ihre Arbeit zu zeigen. [DRAC = "direction régionale des affaires culturelles" - eine regionale Einrichtung für Kulturelles ; FRAC = " fond régional d'art contemporain " - regionale Geldmittel für zeitgenössische Kunst - AdÜ] Da kann man sich schon fragen, wie das alles funktioniert, besonders in der zeitgenössischen Kunst. Meines Wissens gibt es nicht einen einzigen Künstler, der Leiter eines Kunstzentrums wäre - im Gegensatz zur Bühnenkunst. Warum ist der Künstler in der zeitgenössischen Kunst nicht institutionell beteiligt?

OB: Man kann fragen, wer heute von der Kunstproduktion profitiert. Heute will der Staat die ‚offizielle' und Avantgarde-Kunst kontrollieren (und belohnen). Z.B. ist Jean-Huges Piètre, Mitglied des Kultusministeriums, hier anwesend. Er ist Beauftragter für die Künstler in besetzten Häusern. Heute gehen alle Beteiligten aufeinander zu. Kürzlich organisierte das Palais de Tokyo eine Ausstellung nur mit Werken von Künstlern aus der Hausbesetzerszene. Es gibt keine Kontrolle ohne den Wunsch, kontrolliert zu werden. Das Ziel ist, für seine Arbeit belohnt zu werden. Zensur ist ganz anders und brutal. 1993 wurde ein Artikel unter dem Vorwand zum Schutz von Minderjährigen geändert, indem alles verboten wurde, was einen Minderjährigen schocken könnte. Dieses Gesetz wird ganz konkret dazu verwendet, Ausstellungen zu schließen. Das ist der letzte ‚Schutzwall' gegen das ‚Böse', eine echte Zensur.

JMA: Ich habe letztes Jahr einen Artikel eines illegal eingewanderten Schriftstellers in der Tageszeitung ‚Humanité' veröffentlicht, dessen Text ‚Ein Loblied auf die Pädophilie' hieß. Den Titel hatten wir umgeändert in ‚Ich bin nicht so pervers'. André, am Anfang fand ich die Unterscheidung zwischen Kontrolle und Zensur recht anziehend. Im ersten Moment - in bezug auf das was ich bisher gehört habe - erscheint sie positiv. Man könnte den Spieß aber auch umdrehen und sagen: Kontrolle ist keine Zensur, sondern eine Art Erfolg der Zensur. Ich bin mir jetzt nicht sicher, ob man diese Unterscheidung machen kann., weil die Zensur heute unsichtbar geworden ist. Z.B. ist es für uns unheimlich schwer, einen Verlag zu finden, der unsere Zeitung vertreibt. ‚Le Seuil' will als Grundvoraussetzung eine Anfangszahlung von 60.000 Euro, eine Summe die wir selbstverständlich nicht aufbringen können. Das ist eine Zensur, die man nicht sieht. Im Prinzip kann man sagen, es gibt heute keine Zensur mehr.

AR: Dazu will ich folgendes sagen: Vor einem Monat wurden der Künstler Vincent [der Nachname war unverständlich - AdÜ] und einige Leute verhaftet, als sie auf der Strasse ein Video zeigten, auf der eine Striptänzerin in Aktion zu sehen war. Es wurde nicht einmal Anzeige erstattet - ein anonymer Anruf genügte, um die Leute zu verhaften und das Material zu beschlagnahmen.

JMA: Das Beispiel ist interessant, vor allem weil das Werk von Vincent die Mittel einer überwachten Gesellschaft benutzt (Video). Was mich jetzt interessiert: hat es in der Geschichte überhaupt einmal eine Kunst ohne Kontrolle gegeben? Die erste Kontrolle übt der Künstler ja selbst aus. Eine Kunst losgelöst von jeglicher Kontrolle kann es meiner Meinung nach gar nicht geben. Dabei fällt mir noch eine Frage ein: wie äußern sich die Mechanismen der Kontrolle in bezug auf die Ästhetik? Ich glaube, man kann einer Kontrolle immer mit List begegnen.

Y: Ich arbeite in besetzten Häusern, wir sind zwischen 200 und 300 Künstler. Letztens hatten wir mit der Bereitschaftspolizei zu tun. Das ist keine Zensur, sondern einfach Repression.
Dann folgendes: du hattest von Jean-Hughes Piètres gesprochen, der ein Freund von einigen aus dem Besetzermilieu ist. Er ist einer der ersten, der für unsere Belange empfänglich war und einiges für uns getan hat.
In bezug auf das Palais de Tokyo: Wir hatten mit ihnen Kontakt und haben gemerkt dass wir uns nicht verstehen. Ich finde es skandalös, dass sie sehr viel Geld bekommen haben für das Projekt, mit Künstlern aus der Häuserbesetzungsszene zu arbeiten, 10 oder 20 Künstlerkollektive aus Paris bemühen sich um einen Ausstellungsplatz. In einem besetzten Haus gibt es keine Zensur. Ein Künstler wird nicht seinem Kollegen verbieten, seine Sachen zu zeigen. Das Publikum kommt und geht - alles ist offen. Allerdings werden einige Werke von uns von der Presse zensiert.

JMA: Ich will einmal provozierend unseren Innenminister Sarkozy zitieren, der gesagt hat: Kunst hin oder her, ein besetztes Haus ist ein besetztes Haus. Ich will damit sagen, es ist nicht speziell die Kunst, sondern die Gesellschaft, die unterdrückt wird, an das Mögliche zu gelangen. Spekulationen auf dem Immobilienmarkt haben die Preise in die Höhe schießen lassen. Die Künstler haben nicht Häuser besetzt, um ihre Arbeit zeigen zu können, sondern weil sie einen Platz zum arbeiten brauchen. In diesem Sinne sind Künstler keine Ausnahme, sie sind genauso wie andere Menschen von den sozialen Bedingungen betroffen, und in dieser Hinsicht hat Sarkosy Recht.

VSD: Ich möchte deine Ausführungen etwas abschwächen: es gibt doch eine Künstlerausnahme. In einem geschlossenen Raum kann ein Künstler Sachen zeigen, die er sonst nirgendwo anders zeigen kann. Der Videokünstler Vincent wäre niemals belangt worden, wenn er sein Video nicht auf der Strasse, sondern in einem Kunstzentrum gezeigt hätte. Es ist irre, wie der öffentliche Raum zensiert und kontrolliert wird. Als Grund wird so etwas wie die ‚Sicherheit' angeführt. Es ist in der Tat so, dass man im öffentlichen Raum nichts machen kann, ohne vorher 1000 Genehmigungen beantragt zu haben. Der Kunstkritiker Holmes beschreibt z.B. wie einige Globalisierungsgegner und Aidsgruppen den öffentlichen Raum künstlerisch eroberten und die Sicherheitsbeamten verunsicherten. Dies gelang ihnen allerdings nur für einige Jahre, heute geht das nicht mehr.

AR: Claude, ich glaube sie haben Erfahrungen im öffentlichen Raum in der Stadt Lille gesammelt?

CL: Da gab es keine Zensur. Nein, da war nichts Besonderes. Man hat mir einen Auftrag gegeben, ich habe ihn erfüllt, ich habe mich an alle Sicherheitsanforderungen gehalten und auch sonst alle Bedingungen akzeptiert. Ich habe halt ihr Spiel gespielt. Ok, sicher könnten wir hier jetzt alle unsere Erfahrungen mitteilen, aber ich fände es viel interessanter, wenn aus dem Publikum Fragen kämen.

SM: Ich möchte auf folgendes Thema zurückkommen: ist der Künstler den gleichen sozialen Bedingungen ausgesetzt wie jeder andere auch? Dazu folgendes: ungefähr 10% der arbeitsfähigen Bevölkerung ist von der Arbeit ‚zensiert' (arbeitslos). Kann man für diese Situation eine Analogie bei Künstlern feststellen?

JMA: Ja, alle ‚Intermittents du spectacle' sind von dieser Fragestellung betroffen. [Die ‚Intermittents du spectacle' (IdS) sind als soziale Kategorie im europäischen Raum eine französische Ausnahme. Alle Künstler und Techniker im Bereich ‚lebende Kunst' (Bühnenkunst, Film, Fernsehen, Musiker...) erhalten den Status IdS, wenn sie eine gewisse Anzahl von Stunden pro Jahr (507) unter Lohn gearbeitet haben. Dieser Status wurde eingeführt, um einerseits das kulturelle Leben Frankreichs zu beleben, und um dem im Vergleich zu anderen Berufssparten unsicheren Berufszweig des Künstlers eine gewisse finanzielle Sicherheit in den zeitweilig langen Vertragspausen zwischen zwei Projekten zu geben). Verschiedene Regierungen Frankreichs haben immer wieder die Bedingungen zum Zugang des Status' IdS verschärft und dadurch Künstler und angrenzende Berufsgruppen von diesem speziellen Regime ausgegrenzt. So verschärfte die rechte Regierung 2003 nochmals die Bedingungen, was durch einen Generalstreik der Künstler zu einer Stornierung vieler Festivals (wie z.B. Avignon) in ganz Frankreich geführt hatte. AdÜ] Man lebt immer noch in einer Zeit, in der alles auf eine Arbeit ausgerichtet ist, besonders die Ausbildung. Wenn man dann die Ausbildung beendet hat, dann gibt es diese Arbeit nicht mehr. So ergibt sich für viele Menschen die Frage: Was mache ich mit der Zeit, die nicht mehr der Allmacht der Arbeit unterworfen ist? Das sehe ich als eine Kernfrage in der Kunst. Weiterhin wird die Zugehörigkeit zum Status des IdS immer mehr erschwert. Das bedeutet im Klartext: wenn man nicht in einem nationalen Konservatorium studiert hat, wenn man nicht in einer renommierten Schule für bildende Kunst sein Diplom erworben hat, dann hat man quasi keine Chance mehr, je als Künstler in der Gesellschaft anerkannt zu werden. Dies ist eine echte Kontrolle, wie die Peage auf der Autobahn.

OB: Ich möchte doch zwischen zwei Arten von Kontrolle unterscheiden: a) die Kontrolle des Zugangs zum Beruf des Künstlers, und b) die Kontrolle der Inhalte von Kunst. Man fällt doch immer wieder leicht in ein Kritikschema der Linken: Das Geld kontrolliert alles. Man muss aber auch mal sagen, dass es noch nie ein so großes kulturelles Angebot gegeben hat wie heute. Ich persönlich habe von der Kulturrevolution der 68er profitiert. Nach einer Lehre als Sanitätsinstallateur habe ich in einem Photokurs die Photographie entdeckt. Der Beruf des Künstlers ist einfach hart und nicht für jeden geeignet. Das schlimmste wäre, dass man die Kunststudenten glauben lässt, sie hätten nach ihrer Ausbildung ein Recht darauf, Künstler zu werden. Leider gibt es für die Künstler einen sozialen Darwinismus, aber genauso für die Arbeiter die bei Danone arbeiten. Ich bin 45 Jahre alt, und ich lebe von meinen Sachen seit etwa 3 Jahren. Ich will mich jetzt nicht als Modell darstellen, aber was willst du mit deiner Äußerung "man unterstützt nicht den Zugang zur Kultur" sagen?

JMA: Ich rede einfach von einer sozialen Realität. Wenn es in Bagnolet keinen Kunstunterricht gibt, wenn es für 8000 Schüler nur eine Schulpsychologin gibt, dann sind dies erschwerte Bedingungen. Ich sage jetzt nicht, dass wenn ein Schüler mal ein paar Unterrichtsstunden in Skulptur gehabt hat,er dann ein Künstler wird. Ich rede einfach nur von den Möglichkeiten des Zugangs.

OB: A Bagnolet haben sie die gleichen Schwierigkeiten zum Zugang von Gesundheit, Staatsbürgerschaft, Arbeit und Wohnung.

JMA: Es gibt also keine kulturelle Ausnahme...

OB: Wir sind also einer Meinung?

JMA: Ja klar!

Gelächter im Saal.

AR: Was ist ein Künstler? Ein Künstler stellt neue Beziehungsformen zur Welt her, er durchbricht die bekannten Formen. Wo es anscheinend keine Wege gibt, stellt er neue Wege und neue Möglichkeiten vor. Und genau das wird kontrolliert. Alle zeitgenössische Kunst, welche Neues erfindet, unterliegt einer Kontrolle. Ein Künstler in diesem Sinne ist ein Fremder.

JMA: Der Meinung bin ich auch. Ich möchte noch das aufgreifen, was Olivier gesagt hat: Es gibt eine Kontrolle durch Seltenheit, und eine Kontrolle durch Überfluss.

Kü I: Das passt gerade gut. Wir bereiten eine Ausstellung vor, ab dem 10. Juni. Sie heißt: "Wenn jemals - ein Fremdkörper".

Kü I: Die Ausstellung ist nicht 100% sicher, weil wir einen Räumungsbescheid bekommen haben. Aber wir haben gegen ihn Widerspruch eingelegt, so dass zu hoffen ist, dass die Ausstellung stattfindet.

JMA: Die Kunst versucht immer Grenzen zu überschreiten. Ein Künstler lebt immer in einer Art Dringlichkeit, Grenzen zu überschreiten. Wenn diese Komponente fehlt, dann ist es meiner Meinung nach keine Kunst. Wo die Grenze liegt, die überschritten wird - ästhetisch, politisch, sozial, kulturell - das spielt meiner Meinung nach keine Rolle.
1993 war ich auf einem Konzert von Luicica in Barcelona, das war noch zu Franko's Zeiten. Luicica hat ein Lied gemacht, es geht um einen Pfahl, der einen Weg versperrt. Die Zensur hielt den Text für ein ländliches Thema. Jeder in Katalonien hatte verstanden, dass es sich um Franko handelte. Der Erfolg des Liedes ließ die Zensur aufhorchen, und sie untersuchte den Liedtext nochmals und verstand nun, was es mit dem Lied auf sich hatte. Daraufhin hatte sie den Text verboten. In besagtem Konzert spielte Luicica das Lied mit ihrer Gitarre, ohne den Text zu singen - die Melodie konnte natürlich nicht verboten werden. Das gesamte Publikum sang den Text. Ein wundervolles Beispiel von List und Grenzüberschreitung. Man muss manchmal Gesetze umgehen, Häuser besetzen, Grenzen ausweiten. Wenn das nicht geschähe, dann gäbe es nur noch Beamtenkünstler.

AR: Die Überschreitung liegt meiner Meinung nach weniger im Inhalt als in der Form, darin wie man etwas sagt. Das ist ein Arbeiten an der Form, am Material.

VSD: Ich möchte noch etwas zu dem "Fremdkörper" sagen. Meiner Ansicht nach haben die Künstler nicht das Monopol in der Erfindung neuer Möglichkeiten. Ich möchte jetzt nicht, dass wir in das Klischee des unverstandenen Künstlers des 19. Jahrhunderts fallen, weil das zu falschen Transgressionen führen kann, wie man im Palais de Tokyo (black block) gesehen hat.

AR: Klar, der Künstler hat nicht das Monopol in dem Schaffen von Neuem. Er arbeitet an einem Material. Ein Philosoph erfindet Konzepte - desgleichen ein Mathematiker. Ein Künstler arbeitet an speziellen Formen. Er ist - Gott sei Dank - nicht der einzige.

OB: Ok, jeder hat Emotionen, jeder kann etwas erfinden. Ein Künstler ist jemand, der einen Großteil seiner Zeit damit verbringt. Das ist sein Job. Deshalb braucht er Zeit. Er ist nicht intelligenter oder tugendhafter als andere.
Aber über einen Punkt haben wir heute abend noch gar nicht gesprochen - ich finde das seltsam: Von der Auswirkung der staatlichen Institutionen Frankreichs in der Verbreitung von Kunst. Es gibt schließlich eine internationale Szene, ein Netz. Um in dieser Szene sichtbar zu werden, muss etwas getan werden, das geschieht nicht von alleine. Ich kenne keinen Künstler, der sich mit seinen Unterlagen vorstellt und dann auf der Biennale in Wien ausstellen kann. Wer kontrolliert diese Verteilung? Sind es die Künstler selbst, oder ist es eine Bürokratie von Beamten, die mit öffentlichen Geldern bezahlt werden, welche das Zeigen von Kunst organisieren? Es sieht so aus, als ob die Debatte heute abend dieses Thema nicht angeht.

Pu: An wen wendet sich denn ein Künstler, der finanzielle Unterstützung braucht?

OB: Es gibt vier Stellen: das Rathaus der Stadt, der ‚Conseil Régional Ile-de-France', das Kultusministerium und das Außenministerium. Man muss denen seine Arbeit zeigen, und wenn die nicht gefällt, dann gibt's halt keine Kohle. Ok, wir machen das anders, wir fragen die erst gar nicht, wir machen einfach. Dafür gibt es dann halt keine Subvention, sondern Repression, wir sehen weniger die Leute vom Kultusministerium, sondern eher die vom Innenministerium, aber in der Zwischenzeit sind wir ein Stück vorangekommen, es gibt gute Projekte... Es ist natürlich ätzend, wenn man nach 3 Monaten aus dem Atelier rausgeschmissen wird, so läuft es nun mal.
Es gab einen Versuch mit denen vom Rathaus Paris zusammenzuarbeiten, aber die Leute da sind inkompetent und lassen uns ihre Verachtung spüren. Desgleichen die vom AFA, das sind die Leute, die die Künstler im Ausland vertreten. Wir arbeiteten quasi direkt gegenüber von ihnen, aber keiner von ihnen hatte sich je unsere Arbeiten angesehen. Man kann aber ohne diese Leute auskommen. Hier im Saal sind einige anwesend, die auf der Biennale von Liverpool ausgestellt haben. Sie haben sich direkt an Liverpool gewendet, das war gut gelaufen. Vor 5 Jahren waren wir auf der "Off-Dokumenta" in Kassel, auch ohne den ‚Umweg' der französischen Institutionen. Hier in Frankreich meinen viele Künstler, dass man diese Einrichtungen braucht, aber es geht auch ohne.

Kü I: Wir haben größte Mühe von den Anwohnern des Stadtviertels, wo wir arbeiten, akzeptiert zu werden. Für die sind wir ein Fremdkörper. Wenn wir eine Ausstellung machen, dann kann natürlich jeder kommen, die Türen sind offen. Für die Anwohner laufen da zu viele Leute rum, sie rufen die Polizei. Die kommt dann auch, aber das hat jetzt weniger mit Zensur zu tun.

CL: Das liegt daran, dass in Frankreich das Besetzen von Häusern unzulässig ist. Es gibt Länder in denen das lockerer gehandhabt wird, hier in Frankreich wird es total unterdrückt. Deshalb haben Hausbesetzer hier ein schlechtes Image. Unser Innenminister Sarkozy hat das Ganze noch verstärkt, daraus ergeben sich dann hohe Geldstrafen, Gefängnis usw. In der Schweiz wird die Hausbesetzung z.B. toleriert.

JMA: Klar, die Gesetze sind nicht in allen Ländern gleich, und man kann versuchen sie durch politisches oder soziales Engagement zu ändern. Die Erfahrungen aus den Hausbesetzungen zeigen, dass die Kontrolle nicht nur vom Staat ausgeht. Es ist nicht so, dass staatliche Behörden sagen: mein Gott, dort sind Künstlerwerkstätten in besetzten Häusern, die müssen schnellstmöglich weg. Nein, hier sind es die Nachbarn und Anwohner, die kontrollieren.
OB: Eine Kneipe oder eine Pizzeria hätten genau die gleichen Probleme.

JMA: Genau.

OB: Im Marais waren wir im 7. Arrondissement in super Häusern, wir arbeiteten dort und machten Feten ohne Miete zu zahlen. Das reicht schon aus, dass Leute gegen uns sind. Ich bin sicher, dass auch einige Zentren für zeitgenössische Kunst von unserer Existenz genervt sind. Sie brauchen Geld um ihre Läden am Laufen zu halten, und was wir machen kostet keinen müden Cent. Deshalb sind sie gegen uns.

CL: Nein, das glaube ich nicht. Die störst du nicht.

OB: Ich habe viele Kontakte und kann dir versichern, dass einige Galerien sich wirklich freuen würden, wenn wir verschwänden.

JMA: Ich bin schon in vielen Ländern gewesen und kann einiges mit Frankreich vergleichen. Jetzt werde ich vielleicht einige hier schocken, aber ich kann sagen, dass ich unsere Institutionen liebe. Ich bin zwar oft ein enttäuschter Liebhaber, weil die Institutionen nicht so funktionieren wie sie sollten, aber ich liebe sie. Was mich enttäuscht, ist die Mentalität einiger Künstler. Z.B. organisiert die AFA Tourneen von französischen Tanzkompanien in anderen Ländern. Nun meinen manche Choreographen und Tänzer, wenn sie von der AFA keine Unterstützung bekommen, dann könnten sie nicht in anderen Ländern auftreten. Es ist erschreckend, wie manche Leute auf die Hilfe vom Staat fixiert sind. Ich sage den Verwaltern von Tanzkompanien oft, anstatt eure Zeit und euer Geld mit langen Telefonaten und komplizierten Anträgen bei der AFA zu verlieren, würdet ihr besser eigeninitiativ auf Festivals in einem anderen Land gehen, z.B. nach Belgien. Wenn ihr euch dann mit ein paar Einladungen in der Tasche an die AFA wendet, dann müssen die euch quasi unterstützen.

VSD: Seit einigen Jahren arbeiten wir mit "Cassandre" zusammen, und ich habe mich oft gewundert, wie wenig sich die bildenden Künstler mit ihren Kollegen der Bühnenkunst verstehen. Aber immerhin gibt es für Bühnenkunst zuständige Institutionen, die von Künstlern geleitet werden, was man in der bildenden Kunst vermisst. Dann gibt es im Tanz und Theater keinen Markt, im Gegensatz zur bildenden Kunst.

OB: Ich freue mich, wenn wir nach der Diskussion nach Hause gehen und uns sagen: das ist alles sehr komplex. Jean-Marc, wenn ich das Model der Bürokratie kritisiere, dann heißt das nicht, dass man die Politik des Staates zerstören soll. Aber ist es zu viel verlangt, dass in den Kommissionen, die Stipendien zuteilen, Bewerber für Auftragsarbeiten auswählen, Kunstwerke kaufen, genauso viele Künstler wie Beamte anwesend sind? Wie kommt es, dass wir zwischen einer total unsicheren Existenz in besetzen Häusern mit einer gewissen Qualität unserer Arbeiten einerseits und einer staatlich unterstützten eingeschränkten Kunst andererseits wählen müssen? Im Künstlerkollektiv haben wir schon vorgeschlagen, eine Art Mietvertrag "prekäre Inanspruchnahme mit künstlerischer Bestimmung" einzuführen, welche eine zeitlich begrenzte Nutzung von freien Räumen in einem gesetzlichen Rahmen ermöglichen würde. Wir sind sicher nicht die Einzigen mit dieser Idee.

Kü I: Wir dachten an "kommerzieller prekärer Vertrag".

OB: Das gibt es schon.

Kü I: Nein.

OB: Doch, mein Vertrag z.B. Ich habe einen Mietvertrag, ich zahle etwas, und ich kann trotzdem jederzeit rausgeschmissen werden. Was irre war, ich habe einfach so ein Atelier gefunden, ohne Unterstützung. Deshalb betrachten mich meine Kollegen manchmal als eine Art Marsmensch. Aber im allgemeinen werden die Künstler daran gehindert, ein Atelier mit einem normalen Vertrag zu finden, und das entspringt einem Willen zur Kontrolle. Genauso in der Art und Weise, Kunst zu zeigen. Ich bin z.b. dafür, dass es eine "Pariser Biennale" gibt.

CL: Ja, ich auch.

OB: Einige Künstler gehen mir mit ihrem Gejammer "wir können unsere Arbeit nie zeigen" auf die Nerven. Bei manchen stimmt das, bei manchen aber nicht.

CL: Dazu etwas geschichtliches: von 1950 bis 1980 gab es so etwas wie eine Pariser Biennale. Ab 1980 wurde es dann plötzlich superernst, als man sich an der Biennale von Venedig und der Dokumenta von Kassel messen wollte. Alles wurde plötzlich hyperfein zum Vorzeigen. Vorher war die Pariser Biennale ein Improvisieren, junge Künstler aus allen Ländern kamen und stellten aus, Journalisten und Kuratoren waren aktiv auf der Suche nach Entdeckungen und schauten sich so gut wie alles an, und nicht, weil der eine oder andere Künstler jemanden kannte oder eine Empfehlung hatte, die Dynamik war außergewöhnlich. Damals gab es noch nicht diese Machtkämpfe wie heute. 1982 war die letzte Biennale in Paris. In Frankreich hat man diese Dynamik seitdem nie mehr wiedergefunden.

JMA: Solange man noch keinen Markt erobern wollte, gab es diese Freiheit und Unbekümmertheit.

CL: In Frankreich hat man heute zu viele Komplexe. Wir meinen, dass wir nicht gut genug sind. Wir haben in anderen Ländern ein gutes Image, aber wir wollen "schlecht" sein und lassen uns schlecht machen.

Gelächter.

VSD: Gibt uns das Beispiel der Biennale von Paris nicht ein Gegenmittel zur Zensur und zur Kontrolle? Und die besetzten Ateliers, in denen ein unkontrollierter Austausch mit einem Publikum stattfindet?
Publikum: Ich möchte kurz über einen spanischen Künstler berichten, den ich in New York kennen gelernt hatte. Dieser Künstler hatte seit 7 Jahren große Mühe in den Kunstmarkt zu gelangen. Heute stellt er in einer bekannten Galerie in Barcelona aus. Er sagte mir, dass die französischen Künstler eine Ausnahme bilden, da sie sehr vom Staat unterstützt würden. In Spanien gibt es diese Subventionen nicht. Ich glaube, wir können viel lernen, wenn wir in andere Länder gehen.

JMA: Dafür gibt es in anderen Ländern ein starkes Mäzenat, welches in Frankreich nur schwach entwickelt ist.

AR: Ich glaube, in Frankreich haben die Institutionen kein Geld, der Künstler wird wenig unterstützt, und private Einrichtungen helfen auch nicht. Was ist denn das Budget des Kultusministeriums? Selbst ein Mitglied der UMP (rechte Partei) beklagte in der Bundestagssitzung die finanzielle Unsicherheit der zeitgenössischen Kunst, welche 5% des Budgets des Kulturministeriums beträgt. Die zeitgenössische Kunst kommt nach dem Kulturerbe, d.h. nach allen historischen Gebäude, Kirchen, die Oper usw. Man spricht viel mehr von den finanziellen Hilfen, als dass die Hilfen real sind. Ich glaube, in Frankreich spricht man von Subventionen, die es nicht gibt.

OB: Letztes Jahr wurde das Budget der AFA um 18% verringert. Die Beamten bleiben natürlich, so dass das meiste Geld in Gehälter gehen, in Gebäude, Mieten usw. Es sind die künstlerischen Initiativen, die auf der Strecke bleiben. Man sollte die Kultur unterscheiden von Künstlern, die etwas kreïeren. Das Budget geht drauf um z.b. den Louvre zu bezahlen. Die ganzen Stellen zur Verwaltung und Subvention von zeitgenössischer Kunst sollte man einfach abschaffen.

JMA: Da bin ich völlig anderer Meinung. Der Künstler braucht die Kommissare, die Kuratoren, die Kritiker, die ihn begleiten. Das Problem ist nicht, dass die AFA zu viele Mitarbeiter haben. Es gibt ganz andere Stellen, wo das Geld aus dem Fenster geworfen wird, so in diplomatischer Repräsentation.

OB: Das Budget für die zeitgenössische Kunst ist dermaßen lächerlich, dass es quasi ganz von den Gehältern für die Beamten aufgebraucht wird. Diskussion über Gelder und Budgets... JMA: Die Kontrolle findet zu einem großen Teil in der Sprache statt. Dazu ein Beispiel des Autors, dessen Bücher verboten wurden wegen "Anregung zur Pädophilie". Pädophilie bedeutet: sexuelle Anziehung für Kinder. Seit wann ist eine Anziehung zu verurteilen oder zu bestrafen? Das man dieser Anziehung widersteht, dass ist eine kulturelle Aufgabe. Die Tatsache, dass es eine sexuelle Anziehung eines Erwachsenen zu einem Kind geben kann, ist von sich aus eine gesunde Sache. 1968 sagte man: es ist verboten zu verbieten (womit ich nicht einverstanden bin) Man muss den Worten ihren wahren Sinn zurückgeben. Und diese Arbeit muss vom Staat geleistet werden. Die Akademie, Wörterbücher usw. Heute gibt es eine Tendenz wie in den USA, der Privatisierung der Zensur. Es sind Vereine, Rechtsextreme, Mikroorgane, die Anzeige erstatten. Es war ein privater Verein zum Schutz der Kindheit, der das Zurückziehen des Buches "rose bonbon" veranlasst hatte. Das ist das was in den USA passiert: die Kontrolle wird immer mehr vor die Gerichte gebracht, mit Wortklaubereien, die keinen Sinn mehr machen. Das ist eine Entwicklung, die ich als extrem gefährlich ansehe.

OB: Es ist nicht der Staat, der das Wort ‚pädophil' verbreitet, sondern die Presse. "Dutroux ist ein Pädophiler", das liest man in der Zeitung. Dutroux ist ein Monster, das Gegenteil eines Pädophilen. Die Rechtssprechung hat einen Fehler gemacht, indem es weniger dem Staatsanwalt unterliegt, mutmaßliche Unschuldige zu verfolgen, sondern private familiäre Vereine. Man sieht hier eine Privatisierung des öffentlichen Raumes. Ein Mann sieht sich mit seinem Sohn eine Ausstellung an und erstattet Anzeige, weil er sie für skandalös hält...
In einem Artikel, den ich geschrieben habe, stelle ich das Postulat auf, dass angesichts der Eingliederung der Homosexualität in die Gesellschaft ein wichtiger ‚Vertreter des Bösen' abhanden gekommen ist. Dieses Symbol hat jetzt der Pädophile eingenommen, eine Art grundsätzliche Kontrolle.

VSD: Der Bürgermeister einer Stadt - ich glaube es war St. Godasse - sagte anlässlich eines Straßenfestivals: wenn das Straßentheater kommt, dann hole ich meine Kinder rein.

JMA: Das war nicht St. Godasse, sondern Annoné.

VSD: Nein, ich erinnere mich, in beiden Städten wurde so eine Äußerung getan.

AR: Da kommt der Hass der Verschiedenartigkeit zum Vorschein.
Publikum: Ich möchte auf die Verbindung zwischen Kunst und Gesellschaft zurückkommen und über bildende Künstler und Institutionen sprechen. Ich habe Kunstgeschichte studiert, und ich kenne viele Künstler. Das Haus der Künstler [ "La maison des artistes" - ein Verein der sich um die juristischen Belange der Künstler kümmert, wie Urheberrecht, soziale Rechte, Künstlerrechte, Steuerrecht - AdÜ] rechnet für das Jahr 2004 mit fast 30000 Künstlern, die in der Sozialversicherung eingeschrieben sein werden. Ein befreundeter Kunstkritiker sagte mir neulich, dass es zu viele Künstler gäbe. Daraus ergibt sich die Frage, wenn schon wenige Künstler mit den wenigen Subventionen kaum überleben können, wie sich 30000 über Wasser halten sollen. Notwendigerweise wird die Zensur groß sein. In dieser Thematik ist die Heuchelei groß. Es gibt enorm viele Künstler, die sich fragen: wo soll ich eine Unterstützung beantragen, wen soll ich kontaktieren, wie soll ich mich verkaufen? Viele Künstler leben von der Sozialhilfe, viele haben kein Atelier um zu arbeiten. Die Leute werden von Amt zu Amt rumgeschickt, sie laufen sich die Füße wund und finden keine Unterstützung, das ist eine unterschwellige Zensur.

OB: Der österreichische Kunstkritiker und Leiter der Schule für bildende Kunst in Nantes sagte folgendes dazu: In Frankreich läuft fast alles über eine anspruchsvolle Ausbildung. Wenn man an einer Kunsthochschule ein gutes Studium ablegt, etwas Talent zeigt, dann wird man meist ohne Probleme an die richtigen Stellen weitergeleitet, die einen in die Szene einführen und die erforderlichen Mittel besorgen. Es ist nun unendlich schwieriger - einige Leute, die hier am Tisch sitzen werden wissen wovon ich spreche - sich einen Namen zu machen, wenn man nicht den Weg über die Kunstschule nimmt. Nun ist die Frage, ob diese Leute die von ihrer Kunst leben wollen, von der Gesellschaft unterstützt werden sollen. Oder um es etwas härter auszudrücken: es wird sich schon zeigen, wer sich als Künstler durchsetzt und wer nicht.

VSD: Ich wundere mich, dass du den Staat mit der Gesellschaft verwechselst. Ich bin keine Liberale, aber ich glaube, dass es eine Form von Anerkennung seitens der Gesellschaft gibt, die nicht notwendigerweise von öffentlichen Aufträgen oder von Institutionen kommt.

OB: Ich sprach davon, dass der Weg über die Kunstschule seinen besten Schülern einen gewissen Erfolg in der Kunstkarriere garantiert.

JMA: Die Tänzer haben oft große Mühe, ihre 507 Stunden voll zu kriegen, um den Status IdS zu erhalten. Vielen Tänzern fehlen Stunden, und aus diesem Grund nehmen sie Arbeiten an, die sie früher (als man weniger Stunden brauchte) abgelehnt hätten. Die Tatsache, dass sie ihre Kompetenz auf dem harten Markt verkaufen müssen, führt mich zu folgender Frage: Zensieren sich die Künstler selber? Claude, hast du dich jemals selbst zensiert?

CL: Nein, nicht das ich wüsste. Ich fühle mich recht frei, frei in meiner Wahl. Frei, Auftragsarbeiten anzunehmen oder abzulehnen. Dann kommt es auf das Angebot und die Nachfrage an. Ich habe nicht die gleiche Freiheit als ich jünger war. Aber das ist normal.

SM: Ich bin im Internet aktiv und hatte vor, eine Karikatur von der Suchmaschine Google zu bauen. Ich fand noch eine Domain gougle.org die frei war, und begann mit den Arbeiten. Ich verwendete auch das Design und das Layout von Google. Es sollte eine Suchmaschine werden, die absolut nichts findet.

Gelächter.

SM: Ich hatte dann Angst vor eventuellen juristischen Schwierigkeiten und kontaktierte Google, um zu wissen, wie sie auf mein Projekt reagieren. Von ihnen kam keine Reaktion. Ich informierte mich dann etwas zum Copyright und Urheberrecht, aber das ist noch ein ziemliches Neuland im Internet. Da ich nur wenig Geld zum Leben habe, wurde mir die Sache unheimlich, ich wollte nicht eine hohe Geldstrafe riskieren und ließ das Projekt fallen, gab die Domain frei. Also, an der Suchmaschine arbeite ich weiter, aber nicht mehr in einem direkten Bezug auf Google.

CL: Ich finde das total verständlich. Klar gibt es Risiken, und manche Risiken kann man nicht auf sich nehmen.

SM: Das ist auch eine Frage des Geldes. Die Idee gefällt mir sehr, aber ich bräuchte einen Rechtsanwalt, der mich in den juristischen Fragen unterstützt.

JMA: Es ist nicht unbedingt eine Frage des Geldes, man kann versuchen mit List an die Sache ranzugehen. Es gibt Gesetze, welche die Parodie schützen. Wenn du die Domain gougle nimmst, aber nicht ihr graphisches Markenzeichen verwendest, und es irgendwann zu einer Gerichtsverhandlung kommen sollte, dann werden sich die Richter eher kaputtlachen über die ‚Suchmaschine' die nichts findet. Ansonsten, wie Sarkozy sagt: ein Plagiat ist ein Plagiat.

Kü I: Ich möchte etwas hinzufügen: ich war zu einer Geldstrafe von 80.000 Euro/Monat verurteilt worden. Die Strafe wurde jetzt auf 2000 Euro/Monat reduziert, auf 30 Jahre. Das ist mir egal, da ich nicht zahlungsfähig bin. Falls ich mal viel Geld verdienen sollte durch meine Arbeiten, dann werde ich natürlich zahlen. Aber im Moment sieht das nicht danach aus.

JMA: Das ist eine der Taktiken sich zu wehren.
(Es handelt sich um ein Urteil wegen Hausbesetzung - AdÜ)

OB: Wie viele seid ihr denn? Weil 2000 Euro geteilt durch 5, das kann man als Miete ansehen.

AR: Gut aber 30 Jahre lang....

Kü: Guten Abend. Zuerst möchte ich mich für mein Französisch entschuldigen, ich bin kein Franzose, ich komme aus Marokko, ich bin Künstler. Ihr habt viele Probleme angesprochen, mit denen ich auch konfrontiert werde. Ich möchte von meiner Erfahrung von Zensur sprechen. Seit 1998 nehme ich an Ausstellungen teil. Letztes Jahr habe ich eine Ausstellung in der Kunsthochschule in Lorient (Bretagne) gemacht - ich habe sie "Interdit aux Non-Musulmans" genannt. [Eintritt für nicht moslemische Besucher verboten - AdÜ] Der Titel der Ausstellung hat viele Reaktionen hervorgerufen - ich wurde sogar zum stellvertretenden Bürgermeister zitiert, dem ich mein Projekt erklären sollte. Ich habe ihm versichert, dass die Ausstellung für nicht-moslemische Besucher nicht verboten sei. Der Direktor der Hochschule hat mir gesagt, dass die Polizei ihn kontaktiert habe um die Ausstellung zu verbieten. Ich wurde auch von Journalisten angesprochen, sie wollten, dass ich ihnen die Ausstellung erkläre. Allerdings habe ich mich geweigert, ihnen näheres zu erklären, außer der Tatsache, dass der Besuch der Ausstellung den Nicht-Moslemen nicht untersagt sei. Letztendlich habe ich die Ausstellung machen können. Als moslemischer im Westen lebender Künstler beschäftige mich oft mit dieser Thematik, die, so habe ich festgestellt, den Institutionen oft Angst macht. Meine Ausstellungen werden sehr oft zensiert, und ich versuche mich mit subtilen Tricks durchzusetzen. Ein anderes Beispiel: Ich wurde von einer Galerie in Brüssel zu einem Künstlertreffen eingeladen. Der Direktor schlug uns vor, Photos von Brüssel zu machen. Ich sagte ihm, dass es mich mehr interessieren würde, meine eigenen Themen zu entwickeln, womit sich der Direktor einverstanden erklärt hatte. Der Titel meiner Arbeit sollte "Ein Moslem in Brüssel" sein. Ich habe mich mit verschiedenen Künstlern aus Brüssel in Verbindung gesetzt - alle haben sich einer Zusammenarbeit mit mir verweigert. Einige Leute haben mir gesagt: es ist in Ordnung, wenn man radikal ist, aber trotzdem, pass auf, du musst etwas subtiler sein. So arbeitete ich im Dezember alleine in Brüssel, und ich änderte den Titel meiner Arbeit um in "version soft". [sanfte Version - AdÜ] 4 Photos wurden dann in Brüssel, Marakesch und im Centre Beaubourg in Paris ausgestellt. Zur Zeit arbeite ich mit meinem Körper, über das Thema Nacktheit. Im Titel spreche ich nicht mehr vom Islam. Man hat noch nie den nackten Körper eines Moslems gesehen. In Paris habe ich eine Moslemin kennen gelernt, die sich bereiterklärt hat, mit mir zusammenzuarbeiten. Wir wollen täglich ein Bild von unseren nackten Körpern machen, vielleicht ein Leben lang, wenn wir zusammen bleiben. Als Titel habe ich "self couple" gewählt, so bin ich mir sicher, kein Problem mit der Islam-Thematik zu haben. Meine Freundin sagte mir, dass sie die Photos erst dann ausstellen will, wenn wir verheiratet sind. Ich arbeite also an einer Ausstellung, die ich nur dann zeigen kann, wenn ich meine Freundin heirate. Um in der Zeit bis zur Heirat nicht "arbeitslos" zu sein, arbeite ich an einer anderer Ausstellung, die ich "half couple" nenne. In dieser Arbeit will ich Bilder zeigen, auf denen nur ich nackt bin.

JMA: Dazu fällt mir folgende Anekdote ein. Vor drei Jahren haben wir mit der Zeitschrift "Mouvement" ein Projekt im Stadtviertel Belleville (Paris) gemacht, dass sich "Connexe" nannte. Von der Stadt Paris hatten wir eine Räumlichkeit in Belleville bekommen. Als Teilprojekt wollte ein Photograph Portraits von Kindern aus dem Stadtviertel machen, mit der Auflage, dass sich die Kinder Masken aufziehen oder dass sie sich verkleiden. Wir wollten die Bilder auf einem Sportplatz im Freien ausstellen, dort wo sich die Kinder oft aufhalten. Die Photos sollten in einem großen Format auf Stoff gedruckt werden. Um die Bilder ausstellen zu dürfen, brauchten wir die Erlaubnis der Eltern. Wir haben eine komplette Woche damit zugebracht, die Eltern zu kontaktieren, um ihre Unterschrift zu bekommen. Nach einer Woche hatten wir nicht einmal die Hälfte der Eltern sehen können. Sie waren entweder nicht da oder haben uns nicht aufgemacht. Dann gab es einen großen Bruder, der dagegen war, dass das Bild seiner kleinen Schwester gezeigt wird. Auf dem Bild konnte man nicht einmal ihr Gesicht sehen. Es waren herrliche Bilder, die wir nie zeigen konnten. Sie sind bei uns im Keller der Redaktion, wir können sie heimlich zeigen, wenn mal jemand bei uns vorbeikommt. Diese Ausstellung hat tatsächlich aus kulturellen Gründen nicht stattfinden können - die Eltern waren entweder asiatischer oder nordafrikanischer Herkunft.

Kü: Ich bin ehemaliger Jugoslawe. Vor 10 Jahren hatten wir - ungefähr 20 Leute, Videokünstler, Radioanimateure, bildende Künstler, Musiker - einen Bus angemietet. Wir hatten eine Subvention von der Freien Universität Brüssel und vom Theater Anvers. Unser Projekt war, nichts auszustellen. Es war uns wichtig, für einen Zeitraum keiner Kontrolle zu unterliegen - in unserem Land war Krieg. Wir waren insgesamt 8 Tage unterwegs, außer unserer Erinnerung gibt es nichts was von der Reise geblieben ist. Während der Zeit hatten wir das Gefühl, dass alles möglich ist, dass wir frei sind. Ich habe das Gefühl, dass Impasse auch so eine Art Bus ist, der still steht, aber wo es außer einer eigenen sozialen Kontrolle keine Kontrolle gibt.

AR: Bezüglich der Selbstzensur, an die ich nicht glaube: Man arbeitet immer für etwas oder jemanden. Ein Kunstwerk ist immer ein Dialog, man richtet sich immer an jemanden. Das ist nie eine Zensur, sondern ein Dialog, also eine Kontrolle. Wenn man mit jemandem spricht, dann benutzt man Worte, die man sagen kann, und nicht Worte, die man nicht sagen kann. In der bildenden Kunst ist noch ein anderes Problem: die Sichtbarkeit. Die Sichtbarkeit ist ein Kampf. Ein Kampf mit einer Institution, mit einem Verein, mit einer Frau, mit einer Religion. Im Akademismus der früheren Jahrhunderte gab es präzise Regeln. Ein Künstler, der in der Gemeinschaft des Akademismus anerkannt werden wollte, musste seine Darstellungen nach diesen Regeln erschaffen. Im 19. Jahrhundert sind mit dem Untergang des Akademismus auch seine Regeln verfallen. Es gab eine große Freiheit in der Kunst, aber das ist eine Freiheit, die überwacht wird. Es gibt Regeln, durch die Religion, in uns selbst, und darum geht es. Ein Künstler ist jemand, der Sichtbarkeit schafft. Bestimmte Künstler arbeiten mit politischen oder sozialen Themen. Sie zeigen z.b. wie ein Arbeitsloser aussieht, oder ein Obdachloser. Das sind Sichtbarkeiten, die von der Masse der Bilder total verdeckt sind.

JMA: Zur Sichtbarkeit: Vor 2 Jahren habe ich einen Text geschrieben, in dem ich sagte: die echte Zensur sieht man nicht. Was verstecken die Bilder, die wir sehen? Im Krieg gegen die Zivilbevölkerung in Sarajevo haben wir immer wieder folgende Bilder gesehen: verlassene Strassen, in denen man sich Scharfschützen vorstellte, und weiter entfernt sah man Leute, die so schnell wie möglich von einer Ecke zur anderen rannten. Oder man sah Bilder von Beerdigungen. Zu dieser Zeit kam ein bosnischer Filmemacher nach Paris, Bienovitcz, der während des Krieges in Sarajevo geblieben ist und der das Unternehmen Saga aufgebaut hat, um weiter seine Filme zu produzieren und um Filmaufnahmen zu zeigen, die von Amateuren aufgenommen worden waren. Diese Filme hat er einmal im Kino Lelouche in Paris gezeigt.

Kü: Stimmt alles nicht. Auf Arte wurden seine Filme gezeigt.

JMA: Nach dem Krieg, aber nicht vorher?

Kü: Und in den vereinigten Staaten.

JMA: Ich denke an einen Ausschnitt in seinem Film, in dem man eine Geschäftsstrasse sieht in die eine Bombe eingeschlagen hat. Man sieht einen Lieferwagen, in den die verletzten Opfer eingeladen werden. Ich habe mich gefragt, warum man nie diese Bilder im Fernsehen sieht. Im Fernsehen sieht man nur solche Bilder, mit denen man sich nicht identifizieren kann. Wenn man diesen Film sieht, sagt man sich, dass man selber auch ein Opfer eines Anschlages werden könnte. Und man will auf keinen Fall, dass nach dem Tod der eigene Körper auf diese Weise gezeigt wird.

Kü: Ich glaube das ist eine Fehldeutung. Das sind Bilder, die man sich nicht ansehen kann. Sie sind grausam. Man sieht, wie Gehirne aus den Köpfen auf die Ladefläche laufen. Das sind Bilder die unerträglich sind. Das ist genau ein Beispiel von Bildern, die man sich nicht ansehen kann.

JMA: Ich behaupte das Gegenteil. Ich finde im Fernsehen sieht man Bilder, die viel unerträglicher sind als in dem Film von Bienowitcz. Der zweite Film war eher lustig. Er zeigte, wie die Leute in Sarajevo von einem Ort zu einem anderen gehen und die großen Strassen vermeiden. Durch ein Loch in einer Wand gehen, ein Wohnzimmer durchqueren, durch das Badezimmerfenster klettern, um seinen Weg fortzusetzen, um 2 Kartoffeln abzuholen, und dann den gleichen Weg zurückgehen. Durch diese Bilder kann man sich vorstellen wie es ist, sich nicht frei in der Stadt fortbewegen zu können. Man kann sich vorstellen, was die Leute in Sarajevo mitmachen. In ‚France Culture' [französisches intellektuelles Kulturradio - AdÜ] wurden rührselige Geschichten erzählt. Es ist furchtbar, wie die Leute in Sarajevo leben, wir müssen was tun, usw. Alle diese Intellektuellen und Künstler haben keinen Pfennig gegeben oder irgendwas in Gang gesetzt, um Hilfsgüter nach Sarajevo zu senden. Ich finde, die Tatsache, dass solche Bilder wie sie Bienowitcz gemacht hat, nicht im Fernsehen gezeigt werden, sagt einiges aus. Die Bilder die wir in unserem Fernsehen sehen, verstecken mehr als dass sie zeigen. Die Aufgabe der heutigen visuellen Künstler ist komplizierter geworden. Die Sprache welche die bildenden Künstler, die Maler sprechen, war schon immer eine Minderheitensprache. Um so besser. Aber ab welchem Moment ist eine solche Sprache vor ihrem Untergang bedroht?

AR: Noch ein paar abschließenden Worte. Ich bin viel im Osten gereist. Wie kann ein Künstler das Entsetzliche zeigen? Nach dem Krieg war ich in Sarajevo, und ich habe folgendes Video gesehen: Ein Mädchen filmte Kinder, die ihre Eltern während des Krieges verloren hatten, in einem Waisenhaus in Sarajevo. Sie stellte ihnen ganz einfache Fragen: was machst du? Worauf hast du Lust? Dieselben Fragen an ein kleines 8jähriges Mädchen. Man sah ihr Gesicht, und das kleine Mädchen sagte nichts, Schweigen, es sagte nichts, einfach nichts. Frage: Hast du auf irgendetwas Lust? Antwort: Nein. DAS war für mich Sarajevo. Das resümierte alle Schrecklichkeiten, ohne irgendwelche Leichen oder andere schlimme Sachen zu zeigen. Das Kind hatte keine Wünsche mehr und keine Perspektive. Das ist der große Unterschied zwischen einem Künstler und einem Journalisten - ich habe nichts gegen Journalisten. Der Künstler gibt uns einen Zugang, den wir nirgendwo anders finden. Ich schließe mit den Worten von Chantal Ackermann: Ohne Formen sieht man nichts. Ein Künstler erfindet Formen, die etwas sichtbar machen, was man sonst nicht sähe.
Ich danke ihnen allen, vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit und ihre Geduld.



Ich danke André Rouillé (paris-art.com) für die Erlaubnis zur Übersetzung und Veröffentlichung der Diskussion.
Martine Marcovits (ENSBA) stellte mir freundlicherweise eine Tonaufnahme der Podiumsdiskussion zur Verfügung, wofür ich ihr meinen herzlichen Dank ausspreche. Stephan Meinhardt