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GNS - Palais de Tokyo - Paris

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23 Künstler stellen im Palais de Tokyo aus unter dem Namen GNS (Global Navigation System).
Diese Ausstellung formuliert die Hypothese, dass die Topographie in der aktuellen Zeit einen wesentlichen Stellenwert in der Landschaft der zeitgenössischen Kunst einnimmt. Was kann einen Künstler heute dazu bewegen, das Verhältnis des Menschen zu der Welt, in der er lebt, darzustellen, mit den verschiedensten Mitteln, wo die Medien uns mit Bildern der ganzen Erde überfluten? Nachforschungen und Untersuchungen verschiedenster Art ergeben ein Material, auf welchem die in GNS ausstellenden Künstler aufbauen, und welches sie mit den unterschiedlichsten Mitteln weiter verarbeiten. Von der Dokumentation über die Malerei bis zur Installation.

Beteiligte Künstler:

Franz ACKERMANN, Nathan CARTER, Wim DELVOYE, OCEAN EARTH, Dominique GONZALEZ-FOERSTER, Thomas HIRSCHHORN, Laura HORELLI, Pierre HUYGHE, Pierre JOSEPH, Jakob KOLDING, Matthieu LAURETTE, Mark LOMBARDI, Julie MEHRETU, John MENICK, Aleksandra MIR, Henrik OLESEN, Kirsten PIEROTH, Marjetica POTRC, Matthew RITCHIE, Pia RÖNICKE, Sean SNYDER, STALKER, Simon STARLING + Le PAVILLON Projet Collectif, Quentin ARMAND, Angela DETANICO & Rafael LAIN, Adriana LARA, Andreas FOGARASI, Lucas MANCIONE, Nicolas MILHÉ, Émilie RENARD

Ausstellung bis zum 7. September 2003.

Im Folgenden berichte ich über das, was ich in GNS gesehen habe. Dabei ist anzumerken, dass ich mir nicht alles angesehen habe, und das der Grad meiner Aufmerksamkeit nicht konstant gewesen ist. Ich bin durch GNS geschlendert wie ein "normaler" Besucher. Andere werden anderes und auf andere Weise sehen. Es ist meine volle Absicht, keine Erklärungen und keine Interpretation abzugeben.

Mein Besuch beginnt an der Kasse, der Eintritt kostet 4 Euros, 2,50 Euros für Studenten unter 25. Arbeitslose brauchen nichts zu bezahlen. Ich bin arbeitslos und habe eine Bescheinigung dabei, welche die Frau an der Kasse übertrieben misstrauisch begutachtet. Ich schiebe meine Aufenthaltserlaubnis hinterher und bekomme das Freiticket.

Als erstes überwältigt mich die Größe des Raumes: mich empfängt eine riesige Halle mit einer sehr hohen Decke, die Akustik verläuft sich in dieser Weite. Im Inneren des Palais de Tokyo überwiegen die Farben Weiß (Wände), Betongrau (Decke und Boden) und Schwarz (Stühle und Tische im Bereich "Restaurant", Videoinstallation am Eingang). Von der Konzeption her ist es wie "offenes Wohnen", man kann fast alles überblicken. Ich fühle mich in einer Atmosphäre zwischen Kirche und Baustelle.

Wo fange ich an?

Ein zu einer Seite offener Raum. An zwei gegenüberliegenden Wänden eine Schrift in großen Lettern: NOVEL, und FORLIFE. Aus der Entfernung ist die Schrift gut lesbar. Je näher man an sie herantritt, umso mehr erkennt man Detailzeichnungen, düstere schwarze Figuren, wie Scherenschnitte im Inneren der Buchstaben. Als ich unmittelbar davorstehe, übernehmen die Zeichnungen meine volle Aufmerksamkeit, die großen Buchstaben weichen dem Detail.
Auf dem Boden eine große quadratische Holzplatte, angemalt in knalligem Rot. Auf ihr stehen kleine Figuren, Puppen. Sie sehen aus, als wären sie im LSD-Rausch geschaffen worden - psychedelische "Gartenzwerge" mit dem Kopf eines Raben, eine andere menschenähnliche Figur steckt die Zunge heraus, aus der ein Baum sprießt. Jeder Zwerg hat eine andere psychedelische Besonderheit.

In einer Ecke des Raumes drei mannshohe Würfel. Ich drücke gegen sie. Unmöglich, sie zu bewegen, sie sind zu schwer. Alea jacta est.

Ich verlasse den Raum und stoße auf eine Kollage, bestehend aus Zeitungsartikeln, philosophischen Texten, handgeschriebenen Anmerkungen zu Philosophie und Kunst, Pfeile verweisen auf andere Texte. Einige mir unbekannte Namen (aus der Kunstszene?) tauchen auf. Es würde Stunden dauern, das alles zu lesen.

Ich drehe mich um, und mein Blick fällt auf ein an einem Draht aufgehängtes durchgesägtes Fahrrad. Ein Treckingrad, mit dem der Künstler offensichtlich eine Tour gemacht hat. Der Draht, an dem eine der beiden Fahrradhälften hängt, geht bis an die hohe Decke des Raumes, entfernt sich mehrere Meter vom Aufhängepunkt, um dann die andere Fahrradhälfte zu erreichen. Auf dem Gepäckträger sind Isomatte und Zelt festgeschnallt, eine Mineralwasserflasche schaut aus einer Seitentasche heraus. Ein riesiges weißes Plakat an der Wand nebenan informiert den Besucher über die Tour des Fahrers.
Ein paar Meter von dem hängenden Fahrrades entfernt stehen sich zwei kahle frisch gemauerte Wände parallel gegenüber. Sie sind etwas mehr als zwei Meter hoch. Oben auf den beiden Mauern verbindet eine Platte die zwei Wände und dient einerseits als Dach, andererseits als Boden für ein Haus, gebaut aus leeren Getränkekästen in grünem Plastik. Das einzige Fenster des Getränkekastenhauses ist mit einem Gitter verschlossen. Ich gehe um das Haus herum und stelle fest, dass in die offenen gegenüberliegenden Seiten der Wände jeweils ein Garagentor eingebaut ist, welches offen steht, man kann durch die offenen Garagentore hindurchsehen.

Meine Reise geht weiter, ich stoße auf ein leuchtendes Gebilde, an der Decke knapp über dem Boden hängend, in der Form einer riesigen Glühbirne. Es ist eine Drahtkonstruktion, an der Hunderte von 60 Watt Glühbirnen befestigt sind. Ich nähere mich der Riesenglühbirne und staune über die Hitze, die sie ausstrahlt. Hinter dem leuchtenden Gebilde zwei Puppen in Menschengröße, beide kopflos. Eine liegt auf dem Boden, die andere steht auf einem Bein, als wäre beim Laufen plötzlich die Zeit stehen geblieben. Etwas weiter ein Baugerüst - eine etwa 3m hohe kubische Konstruktion, oben mit einer Platte bedeckt. Auf der Platte liegen mehrere kopflose Gestalten, in weißen Leinentüchern gekleidet. Ich gehe weiter und stoße auf vier Frauengestalten, auch in menschlicher Größe. Alle vier Puppen haben die gleichen enganliegenden, den weiblichen Körper betonenden braunen Tuchanzüge an. Eine der Puppenfrauen steht im 45° Winkel zum Boden geneigt, am Umfallen und Weglaufen gehindert durch eine lange Hundeleine, die eine ihrer "Kolleginnen" in der Hand hält. Eine dritte Frau steht einfach im Raum, die vierte klettert über dem Besucher an der Wand hoch.

Ein dunkler Raum, in dem ein Video läuft. Meine Augen brauchen eine Weile, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Da keine Sitzmöglichkeit vorhanden ist, setze ich mich auf den Boden. Auf der Leinwand ein dunkler Wald, klarer Himmel, blattlose Bäume. Auf dem Waldboden liegt eine nackte Frau auf dem Rücken, die Beine und ihre Scham zum Zuschauer gewandt. In gleichmäßigen Bewegungen streicht sie mit ihren Händen über ihr Geschlecht und masturbiert. Ich sehe mir die Szene vielleicht 5 Minuten an. Ab und zu schreit ein Vogel, die Frau masturbiert unentwegt, sie hat die Augen geschlossen, sonst passiert nichts.
Durch die türbreite Öffnung zum Nebenraum flackert ein blitzendes Licht in den Videoraum. Ich stehe auf und gehe den Lichtblitzen entgegen. Auch dieser Raum ist dunkel. Ein Blitzgerät gibt unentwegt heftige Blitze ab. Ein Ventilator, der läuft. Ein kopfloser Mann stehend, in dunklem Anzug. Ein kubischer Holzkasten, Kantenlänge vielleicht 1 Meter. Auf dem Kasten steht auf einem Bein eine weiße Gestalt, menschengroß. Sie ist mitten in einem energievollen Sprung vom Kasten auf den Boden, eingefroren in der Bewegung. Durch die Blitze wirkt sie beängstigend lebendig. Die Arme sind ausgeweitet, um den Sprung vom Kasten auszubalancieren, die Beine sind angewinkelt. Die Gestalt ist in weiße Leinentücher gehüllt. Ihr Körper ist innen hohl. Auf ihrem hohlen Bauch kann man ein erigiertes Glied, in Leinen eingehüllt, erahnen. Die Blitze empfinde ich als aggressiv, nach kurzer Zeit verlasse ich den Raum. Wieder im Neonlicht der Ausstellung angekommen, bemerke ich eine Warnung an der Wand: Epileptikern und Besuchern mit Herzbeschwerden wird vom Besuch dieser Installation dringend abgeraten. Gefahr für ihre Gesundheit.

An der Wand ein Metroplan von Paris, mit nur wenigen Linien und Stationen.
Ein schwarzer Kasten als unregelmäßiges Vieleck, eine kleine Tür an einer Seite, die offen steht. Über der Tür angeklebt auf dem schwarzen Holz ein Bild. Ich schaue durch die offene Tür in den Kasten hinein: die Wände sind ausgekleidet mit einer Gitterkonstruktion, hinter der metallene Federn und breite Flachdrähte gestopft sind. Der ganze Innenraum ist mit diesen Drähten und Federn "ausgestopft". Die Fläche eines weißen Plastikstuhles innen im Vieleckholzkasten. Vor dem Kasten ein Schild mit der Aufschrift: aus Sicherheitsgründen bitten wir sie, nicht in den Kasten hineinzugehen. Außen an einer der vielen Flächen 4 Rollen aus Metall.

Zwei Weltkarten, mit den Landkarten aller Länder der Erde, zerstückelt und alphabetisch nach Ländernamen angeordnet.

Zwei Aushängekästen. Der Künstler hat Botschaften und Verwaltungen von Einwanderungsbehörden vieler Länder angeschrieben, um zu erfahren, unter welchen Bedingungen er die Nationalität des Landes annehmen kann. Die Antworten können in den Aushängekästen gelesen werden.

Ein Video, zwei Sitzplätze davor, ein Kopfhörer. Ich setze mich und schaue eine Weile das Video an. Ein Mann erzählt von einem Stadtleben. Eine real-life Dokumentation, bereichert von einfachen schwarz-weiß Zeichnungen. Die Erzählungen des Mannes sind utopisch.

Zwei Karten. Auf einer sind die Beziehungen eines Großkonzerns in Chile zu anderen Organisationen graphisch dargestellt. Der Präsident des Konzerns wird wegen unerlaubtem Kommerz mit dem Irak von der CIA gesucht. Die zweite Karte ist eine graphische Darstellung der Globalisierung der Welt. Kreise, die mit Linien verbunden sind, veranschaulichen die Beziehungen.

Dauer meines Besuches: 75 Minuten. Beim Herausgehen stelle ich fest, dass es Assistent(inn)en gibt, denen man zu den Exponaten Fragen stellen kann.
Stephan Meinhardt