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Rainer Rochlitz: Kritik ade

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Orginaltext: paris-art.com

Der am 12. Dezember 2002 plötzlich verstorbene Rainer Rochlitz hat sich wesentlich an der in den neunziger Jahren stattfindenden Debatte um die zeitgenössische Kunst beteiligt und versucht, eine Kunstkritik herauszuarbeiten, die auf einer „ästhetischen Rationalität“ basiert. Sein letztes Buch über dieses Thema, „Feu la critique“ (Kritik ade), Essays über Kunst und Literatur, leisten einen großen Beitrag zu dieser Polemik, besonders was die Kritik der zeitgenössischen Kunst betrifft, und in dem er den Verlust von Evaluation und das Ausbleiben von Werturteilen anprangert.

Text von Brigitte Jensen

Feu la critique (Brüssel, La lettre volée 2002) stellt elf Essays zusammen, von denen nur vier unveröffentlicht sind, während die anderen in Ausstellungskatalogen, (in dem über Léger, Gris und Beuys) in der Revue Critique, im Verlag Jacqueline Chambon oder in Le Monde des Débats veröffentlicht worden sind. Diese Verbreitung macht klar in wieweit der Philosoph in den Bereich der Kunst eingebunden ist, vor allem als Kritiker, insbesondere in der polemischen Debatte, welche die zeitgenössische Kunst gegen Ende der neunziger Jahre getroffen hat.
Das Buch ist in die drei Teile Kunstkritik, Literaturkritik und zeitgenössische Kunst aufgeteilt und präsentiert Werksanalysen sowie ästhetische Essays. Die Äußerungen über die Kunstkritik können all diejenigen nicht unberührt lassen, die sich für die zeitgenössische Kunst interessieren, besonders die „Produzenten“ selbst einer solchen Kritik.

Schon im Vorwort trifft Rainer Rochlitz (1) die absichtlich alarmierende und provozierende Feststellung: „Die Kunstkritik als Genre ist in Gefahr.“ Dabei ist nicht die Kritik gemeint, die sich auf das Kino oder die Literatur bezieht, sondern eine Kunstkritik, welche sich besonders auf Grund ihrer fast immer verkaufsfördernden Art und eines kleinen Publikums „mehr und mehr auf die Akteure des Kunstbereichs reduziert“, in dem ein „impliziter Konsens“ herrscht.
In einem Kreis von Eingeweihten zielt die Kunstkritik nicht darauf ab das Publikum aufzuklären, sondern vielmehr den Gesichtspunkt des Künstlers zu erläutern und sich „geschäftsfördernden Praktiken" hinzugeben, die vom Wesen her sowohl dem Handel als auch der Institution dienen. Der wahre Gegenstand der Kritik ist auf diese Weise zur reinen Information geworden, ohne eine Stellungnahme oder eine ästhetische Auswertung, die nach Rochlitz eine „selbstmörderische Haltung" innerhalb dieser „autarken" Welt geworden wäre.

Rochlitz konstatiert eine „wahre Krise der Kritik": Sie ist nicht mehr angehalten das „Stück Wahrheit" bzw. das moralische oder politische Thema des kritisierten Werkes aufzudecken; unter dem Einfluss der analytischen Ästhetik begnügt sich die aktuelle Kritik, gegenüber dem Werk eine beschreibende Haltung anzunehmen, und gibt so ihre kritische Mission und damit ihre Selbstberechtigung auf. Auf diese Feststellung des Scheiterns hin beendet der Autor das Vorwort in einem optimistischen Ton, da, so meint er, eine Kritik „immer möglich" sei „unter der Bedingung, den Gesamtkontext zu überdenken, in dem sie ihren Platz einnimmt".

Die Voraussetzungen für die Existenz einer wahren Kritik wurden vor allem in den Büchern „Subversion et Subvention“ und „L’Art au banc d’essai“ thematisiert.
„Feu la critique“ versucht sich diesem kritischen Anspruch wieder anzuschließen, indem es Beispiele anführt, in denen der Autor seine eigene Kritik darlegt als einen „Versuch, an den Sinn dieser Aufgabe zu erinnern, den die Künstler und überhaupt alle aus dem Kunstbereich brauchen, um nicht dem Zynismus zu erliegen“: Das Buch ist wie ein Modellentwurf einer neuen Richtung in der Kritik, die sich der Autor wünscht.

In den verschiedenen Kritiken, die in den Bereichen der Kunst (Léger, Gris et Beuys) und der Literatur (Échenoz et Houellebecq) vorgeschlagen sind, treten einige Richtlinien hervor: eine formelle detaillierte Werkanalyse, indem sie in ihren historischen Rahmen und in die Kunstgeschichte eingeordnet werden; ein Versuch den tiefen „Sinn" jedes Werkes herauszuarbeiten („Liebe zur Modernität" für Léger, den Kubismus „genießbar machen" für Gris) was das Werk von Beuys angeht - bzgl. dessen Rochlitz die Kritik einer Werkkritik in Angriff nimmt - sie enthülle auf beispielhafte Weise die zentrale These Rochlitz', die besagt dass ein Kunstwerk seinen eigenen formalen Zusammenhang besitzt, den der Kritiker sich bemühen sollte herauszustellen, wobei die Kommentare des Künstlers selbst als eine Interpretationsquelle unter vielen anzusehen sei, „genauso fehlbar wie alle anderen Sichtweisen". Die Fülle der Kommentare von Beuys selbst (die sich meist auf seine persönliche Erfahrung beziehen) und ohne die sein Werk unverständlich geblieben wäre, kontrastiert mit einem fassbaren Werk, das einer ästhetischen Auswertung vorgeschlagen wird. „Was neben diesen Kommentaren bleibt", so Rochlitz, „ist das, was er symbolisiert hat, und das sich einer Interpretation anbietet, die er niemals kontrollieren konnte".

Der sehr interessante Essay mit dem Titel „Artistes et Artisans“ (Künstler und Handwerker, A.d.Ü.) zieht eine historische Bilanz bzgl. der Trennung dieser beiden Berufe, indem er eine intellektuelle Eigenart in der künstlerischen Aktivität herausarbeitet, die Kunst, im Gegensatz zum Handwerk, sei „die Stütze einer originellen Interpretation der Welt“, eines „Anspruchs auf die Universalität eines Kunstwerkes“. Ein anderer unveröffentlichter Essay analysiert (im Hinblick auf die Schriften von Benjamin über die Politisierung der Kunst) die Beziehungen zwischen zeitgenössischer Kunst und der (politischen) Macht.
Über die in „Subversion et Subvention » vertretene These, die die Beziehungen der zeitgenössischen Kunst zur Institution und zum „Nicht-Sinn" einer subversiven subventionierten Kunst (2) untersucht, und über eine thematische Beziehung der Werke, die ein politisches Thema angehen (ohne gleichzeitig den Einfluss zu vernachlässigen, den das künstlerische Schaffen in bestimmten Zusammenhängen über die politische Macht haben kann) hinausgehend, ist die zeitgenössische Kunst nach Rochlitz mehr ein „Zeugnis". Sie ist eher „ein Anreiz hinzuschauen und nachzudenken" als eine Propaganda, ein Anreiz „zu handeln".

Der Essay „Esthétique, critique et histoire de l'art » (Ästhetik, Kritik und Kunstgeschichte) greift das Thema der Eigenart der Ästhetik bzgl. der Kritik und der Kunstgeschichte auf und behandelt die unvermeidbaren Überschneidungen in Abhängigkeit von der eigenen Geschichte und den verschiedenen Annahmen und Varianten des Berufes des Ästhetikers den Kulturen und Traditionen eines jeden Landes entsprechend. Die Kritik, so sagt Rochlitz, ist nicht angehalten, irgendeiner vorbestimmten Methode zu folgen. „Eine gute Methode, eine gute Art ein Werk zu sehen ist eine solche, die zu der überzeugendsten Interpretation führt, zu einem Urteil, was am treffendsten erscheint - aber dies sind nachträgliche Kriterien, denen nicht alle Kritiken gehorchen." Mangels einer unfehlbaren Methode besteht die gute Kritik in einer „zufälligen Aufmerksamkeit des Kritikers" und „im Aufdecken eines Zugangs, der sich als der ergiebigste erweist, um über das Werk zu berichten". Um dies zu erreichten muss sich der Kritiker bemühen, zur Lesbarkeit des Werkes sein Verständnis, sein Einfallsreichtum und seine eigene innere Welt einzubringen. Dies setzt voraus, dass die Kritik eine ästhetische Aktivität ist, die zu einer rationalen Argumentation tendiert. Sie reduziert sich nicht auf ein subjektives Geschmacksurteil, das nicht zu argumentieren braucht. Es gibt „Gründe", die den Wert eines Werkes ausmachen, und es ist die Aufgabe des Kritikers sie zu erfassen.
Doch genauso warnt Rochlitz vor einer normierenden Variante der Kunstkritik, die darin bestünde, zu bestimmen was Kunst zu sein habe. Sie muss eine Hilfe zur Reflexion im Nachhinein bleiben, sie interveniert nach dem Schöpfungsprozess.
In diesem Sinne schadet der Kunstkritik die Austauschbarkeit der Rollen im Bereich der Kunst: „Jeder Kritiker, jeder Verantwortliche kann selbst zum Schöpfer werden, eine Ausstellung, ein Konzept, eine Richtung entwerfen. Der Kunsthistoriker wird zum Kritiker, der Kritiker zum Ausstellungskommissar, der Ausstellungskommissar zu einer Art neuer Künstler. Auch in diesem Rahmen können die Ideen und Modelle nicht mehr auf die notwendige Distanz zur Kritik zählen“.

Trotz des sehr interessanten Essays über die Beziehungen zwischen Ästhetik, Kritik und Kunstgeschichte ist es zu bedauern, dass Rochlitz seine im Vorwort angeführten Anschuldigen gegen die Kritik der zeitgenössischen Kunst nicht weiter vertieft hat. Niemand wird die Existenz einer rein beschreibenden, geschäftsfördernden und institutionellen Kritik leugnen können. Aber die Äußerungen bleiben allgemein, es fehlt an präzisen Beispielen (Zeitschriften, Kunstkritiker die an Institutionen gebunden sind, beschreibende Texte usw.). Wenn die Polemik, die die zeitgenössische Kunst in Frankreich am Wendepunkt des Jahrhunderts durchquert hat, uns etwas gelehrt hat, dann ist es die demagogische Art der allgemeinen Anschuldigungen (besonders des „irgendwas“) welche die Gesamtheit der künstlerischen Produktion umfasst, ohne sich die Mühe einer sorgfältigen Analyse zu machen.
Wenn Rochlitz versichert, dass „die Kunstkritik als Genre in Gefahr ist“, oder wenn er von der „Krise der Kritik“ spricht, kommt er einem Voraussagungseffekt und der Demagogie ziemlich nahe. Seine Äußerungen zielen darauf, die Kritiker zu einer Reaktion zu bringen, damit eine wahrhafte Kritik im öffentlichen Raum neu entstehen kann.
Auf dass das Internet dazu beitragen kann diese Richtung einzuschlagen...

Anmerkungen:

Als Forschungsleiter im CNRS (Centre National de Recherche Scientifique) und Lehrer am EHESS (Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales) hat Rainer Rochlitz durch seine Übersetzungen einen grossen Beitrag geleistet, Jürgen Habermas in Frankreich bekannt zu machen. Seine wichtigsten der Ästhetik gewidmeten Werke sind: Le Désenchantement de l’art (Die Ernüchterung der Kunst), La philosophie de Benjamin (Gallimard 1992), Subversion et Subvention, Art contemporain et argumentation esthétique (Gallimard 1994), l’Art au banc d’essai (Die Kunst auf dem Prüfstand), Esthétique et critique (Gallimard 1998), und Feu la Critique (Kritik ade). Essays über Kunst und Literatur (La Lettre volée 2002). Mehr Informationen über die Bibliographie und den Werdegang von Rochlitz findet man auf der Webseite des CRAL (Centre de recherche sur les art et le langague) der EHESS.

2. Über dieses Thema kann man auf der Webseite „Veille thématique en art contemporain“ des Museums für zeitgenössische Kunst in Montreal eine sehr interessante Buchkritik von Jean-Philippe Uzel lesen. (http://media.macm.org/vthome.html)

Übersetzung: Stephan Meinhardt