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Begegnung/Debatte mit Jean Gaudin: Dient das Alter dem Tanz?

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Wegen einer Knieverletzung habe ich 1999 den Tanz aufgegeben. Die erste Zeit danach wollte ich von Tanz weder etwas hören noch sehen. Wenn im Fernsehen eine Sendung über Tanz kam, schaltete ich auf ein anderes Programm um. Wie bei Liebeskummer, so ließ auch dieser Schmerz mit der Zeit nach, und mittlerweile macht es mir wieder Freude, mich mit choreographischen Themen auseinandersetzen.

Die Frage des Alters im Tanz ist für den klassischen Tänzer um die 35 abgehandelt - er geht in den ‚Ruhestand', wird Lehrer, Choreograph oder macht eine eigene Tanzschule auf. Auf der Bühne hat er jedenfalls nichts mehr zu suchen. Das Fordern nach Perfektion gepaart mit höchster körperlicher Leistungsfähigkeit setzt dem Tänzer eine klare Grenze.

Im zeitgenössischen Tanz werden andere Prioritäten gesetzt, und die Altersgrenze ist nach oben - zumindest theoretisch - offen. Minimalismus, Tanzprojekte mit sozialem Charakter, Offenheit gegenüber anderen körperlichen Techniken wie Akrobatik, Tai-Chi, Chi-gong, Hiphop, Freiklettern, Yoga, Tanz in Schwerelosigkeit (Kitsou Dubois), Schwimmen, Alltagserfahrungen aller Art usw. lassen auf der Bühne des zeitgenössischen Tanzes eine große Vielfalt unterschiedlichster Persönlichkeiten und Ausdrucksformen erscheinen. Trotzdem ist - im Durchschnitt gesehen, auch dort der/die TänzerIn jung (jünger als 40), schlank und gut trainiert.

Es ist das erste Mal, dass ich Überlegungen dieser Art in einer öffentlichen Veranstaltung behandelt sehe, da will ich dabei sein: Termin 11. Mai 2004, um 18Uhr30 im Theater "Maurice Berteaux" in der Stadt Bezons, die im bzgl. Paris nördlichen Département "Val d'Oise" liegt. Ich reserviere 3 Tage vor Termin unter der auf dem Flyer angegebenen Telefonnummer. Die Debatte wird von dem Choreographen Jean Gaudin organisiert, als Auslöser dient die Projektion eines Videos "Les autruches" (die Strauße), das 1983 unter seiner choreographischen Leitung entstand. Zehn Jahre danach entschlossen sich Choreograph und Interpreten zu einem Revival mit Tournee und erneuter Videoproduktion, desgleichen nach zwanzig Jahren. Wie der Franzose sagt: on reprend les mêmes et on recommence. (man nimmt die Gleichen und fängt wieder von vorne an - Ausdruck der oft ironisierend bei politischen Wahlen gebraucht wird)

Obwohl man von Jean Gaudin (JG) selten etwas hört, so ist der Choreograph schon zu seinen Lebzeiten in die Geschichte des zeitgenössischen Tanzes eingegangen. Als ich noch tanzte, (also vor 1999) hatte ich Gelegenheit JG und seine Arbeitsweise persönlich kennen zulernen: im "Frühling von Bourges" nahm ich an einem von ihm geleiteten Workshop teil. Beim Schreiben dieser Zeilen erinnere ich mich an Einzelheiten unserer damaligen Begegnung.
Der Workshop war aufgeteilt in 2x2 Stunden vormittags/nachmittags, und ungewöhnlicherweise nahmen Kinder, Jugendliche und Erwachsene morgens zusammen am Unterricht teil. Ob dies aus finanziellen, pädagogischen oder administrativen Gründen so organisiert war, war mir nicht bekannt.
In den Morgenstunden herrschte eine gewisse Unruhe, Kicher- und Schwätzereien der Kinder (und Erwachsenen) störten die Konzentration, welche für die Durchführung der zum Teil schwierigen und subtilen Übungen erforderlich war, jedoch nicht lange: JG flippte aus, las den Kindern (und den Erwachsenen?) die Leviten und kündigte demjenigen sofortigen Rausschmiss an, der es nochmals wagen würde, während des Unterrichts zu reden oder zu lachen. Einige Minuten später geschah es: ein 11-jähriger Junge musste gehen. Ich hegte den Verdacht, dass JG's hartes Durchgreifen nicht nur an die Kinder gerichtet war, wohlmöglich hatte er diese für seine Autoritätsdemonstration vorgeschoben, um einer Konfrontation mit erwachsenen Schülern aus dem Wege zu gehen. Eines konnte man sagen, danach herrschte Totenstille im Saal. (und die Stimmung war erst mal im Eimer)

Dann erinnere ich mich an die feucht-kalten Hände meiner Partnerin und unsere vergebliche Mühe, die von Gaudins auferlegte Übung korrekt auszuführen: wir sitzen uns mit angezogenen Beinen am Boden gegenüber, fassen uns mit ausgestreckten Armen an den Handgelenken und stehen langsam, das Gleichgewicht haltend auf, wenn es geht, ruhig weiteratmend, mit entspanntem Gesicht, bitteschön. So fest ich die Handgelenke meiner Partnerin auch umklammerte (und sie meine), rutschten wir durch ihre feuchten Handflächen immer wieder auseinander, und mir taten nach kurzer Zeit vom krampfhaften Zupacken die Unterarme weh.

Angenehm fand ich Gaudin's Nachsicht, wenn man in einer Choreographie Fehler machte. Es war mir schon immer schwergefallen, neue Bewegungsabläufe schnell einzustudieren, und unser Lehrer sah großzügig über Lücken hinweg, wenn er feststellte, dass man sich hundertprozentig in der Bewegung engagiert. Bei dieser Art von Arbeit hatten auch Motorik-Alzheimer wie ich eine Chance, und selbst Tänzer mit guter Technik konnten von ihm kritisiert werden, wenn sie es an Überzeugungskraft fehlen ließen.
Diese Haltung hat Jean Gaudin die ganze Woche lang beibehalten, und ich glaube, dass es überhaupt seine Haltung ist: Er schöpft den Sinn und die Subtilität des Tanzes aus der inneren Haltung und dem persönlichen Engagement, der Tänzer ist mit seiner ganzen Persönlichkeit für seinen Tanz verantwortlich. Unter dieser Perspektive verstand ich auch folgende Übung: aus dem hinteren Bereich der Bühne sollte jeder einzeln nach vorne gehen, in den großen leeren Zuschauerraum schauen, laut und deutlich den eigenen Vornamen aussprechen, um danach wieder in den hinteren Bühnenbereich zurückzukehren. Bei dieser Übung konnte sich niemand verstecken. Für ein paar Sekunden stand man dort, allein, als Mensch, vor den Augen eines imaginären Publikums, und wurde sich seiner mangelhaften Präsenz bewusst, welche nach dem ‚Auftritt' von JG kritisiert wurde. Diese Übung durften wir mehrmals wiederholen. Das sind Augenblicke, die man nicht vergisst.

Doch genug der Erinnerungen. Am 11. Mai, eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn, fahre ich los und schlängele mich durch die nördliche Banlieu bis nach Bezons, ab und zu einen Blick auf die Straßenkarte werfend. Ich werde wider Erwarten nicht durch die üblichen Verkehrsstaus aufgehalten und nutze die mir verbleibende Zeit mit einem Spaziergang in der Sonne. Kurz vor halb sieben melde ich mich beim Empfang, die Dame telefoniert einer Kollegin, welche sogleich erscheint und mich in die Theaterbar im Souterrain begleitet. Ich amüsiere mich über meine Bedenken, keinen Platz in dieser Veranstaltung zu bekommen: 6 Leute sitzen an den Tischen, JG inbegriffen, der an dem auf der Theke stehenden Fernseher und Videorekorder rumfummelt.

Sein Werk "Les autruches" kenne ich nicht. "Auf halben Weg zwischen Theater und Tanz inspiriert sich das Stück von der Atmosphäre des Polars der 50er Jahre. Ein Polizist, eine Kammerzofe, ein Toter, eine Frau als Vamp, eine burleske polizeiliche Untersuchung - mit Jean Gaudin (JG), Danièle Cohen (DC), Charles Cré-Ange (CCA), Sophie Daull, Bruno Dizien", lese ich auf dem Prospekt.
Folgende Fragen sollen helfen, sich auf den Themenabend einzustellen: Weitere 5 Gäste finden sich ein. JG begrüßt uns. Anschliessend schauen wir uns das Video (schwarz-weiss) "Les autruches" in den Versionen 1983 und 1993 an.
Die unterschiedliche Bühnendekoration, Beleuchtung und Kameraführung machen es mir unmöglich, die Videos in Hinsicht auf das Alter der Tänzer zu vergleichen.
Nach der Projektion sind wir alle etwas schlaff.

Ich beginne mit einer Frage an JG: Haben Sie sich 1983 vorgenommen, "Les autruches" alle 10 Jahre in gleicher Besetzung aufzuführen, bis dass der Tod uns scheidet?

JG: Nein, auf keinen Fall. Etwa 8 Jahre nach der ersten Produktion hatte ich die Idee und vor allem Lust, dass wir uns wieder zusammenfinden. Mich interessierte, wie es für uns wäre, wenn wir die Arbeit an "Les autruches" wieder aufnehmen. Ich kontaktierte dann jeden von uns und fragte nach, was sie von meiner Idee halten. Wenn auch nur einen von uns das Projekt nicht interessiert hätte, dann hätte es nicht stattgefunden. Es war mir wichtig, das Stück in gleicher Besetzung zu tanzen.

Ein Gast: wie war das für euch, nach 10 und 20 Jahren wieder zusammenzuarbeiten und das gleiche Stück zu tanzen?

JG: Ich hatte vor allem den Eindruck, eine Art Aha-Erlebnis, endlich meine Rolle als Choreograph verstanden zu haben. Es mag vielleicht etwas merkwürdig klingen, aber genauso war es. Dieses Erlebnis ist genau durch unsere erneute Zusammenarbeit entstanden, und ich bin froh, dass ich das erleben durfte. Als ich noch jünger war, arbeitete ich meist ohne Plan, jeder Tag musste neu geschaffen werden. Damit hatte ich mir selbst viel Druck gemacht. Das ist heute anders. Ich habe klarere Strukturen und fühle mich gleichzeitig freier, da dieser Druck weg ist.

CCA: Ich merke, dass der Tanz für mich heute einfacher ist als vor 20 Jahren. Ich arbeite jetzt mit mehr Präzision, gleichzeitig habe ich einen größeren inneren Frieden als früher. Auch das Lampenfieber ist quasi verschwunden. Z.B. kurz vor unserem Auftritt vor ein paar Tagen las ich hinter der Bühne meine Zeitung - das Stück hatte schon angefangen. Eine Minute bevor ich dran war, legte ich die Zeitung beiseite und tanzte ruhig meinen Part. Das wäre vor 20 Jahren für mich undenkbar gewesen.

Ein Gast: Kann ein alter Mensch auf der Bühne tanzen, ohne dass das Alter gleich zum Hauptthema des Stückes wird?

Ein anderer Gast führt als Beispiel das neue Werk von Jean-Claude Gallota "Trois générations" an, in dem Tänzer dreier Altersklassen - Kinder, junge und ältere Erwachsene - die gleiche Partition tanzen.

Beispiele alter Tänzer, die auf der Bühne zu sehen sind, werden angeführt, wie Kazuo Ono (geht auf die 100 zu), der mit Tatsumi Hijikata zusammen der Begründer des Butoh-Tanzes ist, Françoise et Dominique Dupuis, Caroline Carlson. Ich erwähne ein Tanzstück von Ea Sola, einer vietnamesische Choreographin. In Frankreich lebend, ging sie nach dem Krieg für 5 Jahre in ihr Heimatland und arbeitete dort mit ehemaligen Tänzerinnen, die im Krieg als Bauern oder in der Armee arbeiteten. Das Resultat ihrer Arbeit zeigten sie und 15 Frauen im Alter zwischen 50 und 75 auf verschiedenen Bühnen Frankreichs. Es geht um Krieg, um Stille, darum was es bedeutet, eine Frau in einem Land zu sein, in dem Krieg ist.

JG bemerkt, dass er im Alter zum Wesentlichen geht.

CCA erzählt eine Anekdote: Einmal sah ich im Théâtre des Champs-Elysées einen älteren Tänzer, der ganz furchtbar tanzte, wie eine Kröte. Am Ende erfuhr ich dann, dass es Nurejev war. (Rudolf Nurejev - 1938-1993 - war in den 60er und 70er Jahren der wichtigste erste Solist im englischen Royal Ballet) Ich will damit nur sagen, dass man sich im Alter nicht zwingendermaßen verbessert. Wenn man lügt, vor allem wenn man sich selbst belügt, dann altert man. Was hat man davon, wenn man in der Kunst lügt?

JG: Ich stelle mir oft die Frage, was will ich weitergeben.

Gast: Mich interessiert auch die Frage, ob bzw. wie ein Veranstalter auf das Alter von Tänzer reagiert. Werden junge oder ältere Tänzer bevorzugt?

V: Ich kann ihnen dazu meine persönliche Haltung sagen: ich bin die Veranstalterin dieses Theaters. Bei der Auswahl der Theater- oder Tanzstücke lasse ich mich von den Emotionen leiten, die sie in mir hervorrufen. Das Alter der Bühnenkünstler ist für mich noch nie ein Auswahlkriterium gewesen und wird es auch nie sein. (Wer hätte als Antwort auch erwartet: ich nehme nur junge Tänzer...)

CCA lässt das Wort "Verwesung" mehrmals fallen. Wir sind Sternenstaub, bestehen aus alten Atomen und haben abermilliarden Freunde, im ganzen gesehen sind wir also unsterblich.

CCA macht keinen Hehl aus seiner Abneigung gegenüber dem klassischen Tanz: Er ist leer und arbeitet gegen den Körper. Doch manchmal - und das grenzt fast an Wunder - gelingt es einem begnadeten Tänzer über seinen extrem begrenzten Ausdrucksspielraum hinauszugehen und etwas Besonderes zu geben. Der klassische Tänzer ist alt, wenn er noch jung ist. Ich kann mir nicht vorstellen nicht zu tanzen - ich wünsche mir bis an mein Lebensende zu tanzen.
Ich spreche die Frage des Arbeitsmarktes an: findet ein älterer Tänzer schwerer ein Engagement?

Eine Tänzerin (~ 45) antwortet: es ist mir klar, dass mich ein junger Choreograph eher nicht einstellen wird. Umgekehrt hätte ich wahrscheinlich auch Bedenken mit einem jungen Choreographen zu arbeiten. Bei mir ist es so, dass ich heute leichter ein Engagement finde als früher, da ich auf ein großes Netz von Kontakten zurückgreifen kann. Im jungen Alter musste ich mich in den Auditions gegen meine Konkurrentinnen behaupten. Wenn von 60 Tänzerinnen 2 oder 3 gebraucht werden, dann ist die Chance sehr gering genommen zu werden. Heute bin ich auf diese Auditions nicht mehr angewiesen.

JG bedankt sich für unsere Teilnahme und beendet den Themenabend. Auf dem Weg nach Hause fallen mir noch Fragen ein: was macht ein Tänzer, wenn er eine Verletzung oder Krankheit hat? Wie würde CCA reagieren, wenn grosse Schmerzen ihm eine 'normale' Existenz auf der Bühne verleiden? Ich denke an Merce Cunningham, der wegen seiner schweren Arthrose kaum noch gehen kann. Es ist sicher leichter, weiter auf der Bühne zu sein, wenn man sich bester Gesundheit erfreuen kann. Mir fällt ein Tänzerfreund ein, Philippe Ducou, der sich im Training einen Kreuzbandriss zuzog. Wenige Wochen nach der Operation - und mit Krücken - war er wieder auf der Bühne.
Stephan Meinhardt